Stadtgeschichte: „Der Abstand ist größer geworden“
Vor zwanzig Jahren zog das Berliner Abgeordnetenhaus vom Rathaus Schöneberg in den Preußischen Landtag in Mitte. Mit dabei war Sibyll Klotz, damals grüne Abgeordnete. Jetzt ist sie Stadträtin für Soziales - im Rathaus Schöneberg.
taz: Frau Klotz, erinnern Sie sich noch an den 29. April 1993?
Sibyll Klotz: Ist das der Tag gewesen, an dem wir umgezogen sind?
Genau vor zwanzig Jahren, am 29. April 1993, tagte das Abgeordnetenhaus erstmals im ehemaligen Preußischen Landtag. Tags zuvor war das sanierte Gebäude gegenüber dem Gropiusbau mit einem Festakt eröffnet worden.
Zuvor war das Rathaus Schöneberg der Sitz des gemeinsamen Abgeordnetenhauses, das dort nach der Wahl am 2. Dezember 1990 erstmals am 13. Januar 1991 tagte. Die konstituierende Sitzung zuvor hatte am 11. Januar 1991 in der Nikolaikirche stattgefunden.
Den Beschluss, den Preußischen Landtag in der Niederkirchnerstraße als gemeinsames Parlament herzurichten, bezeichneten Bündnis90/Die Grünen als "teuersten Beitrag zur Politikverdrossenheit". Der Grund: Dem Auftrag an den Architekten Jan Rave mit Sanierungskosten von 160 Millionen Euro war keine Ausschreibung vorangegangen.
Sibyll Klotz
Die heute 52-Jährige zog 1991 ins Abgeordnetenhaus ein. Sie war zweimal Spitzenkandidatin und mehrfach Fraktionsvorsitzende der Grünen. Heute ist Sibyll Klotz Stadträtin für Gesundheit und Soziales im Bezirk Tempelhof-Schöneberg.
Da fand die erste Sitzung des Abgeordnetenhauses im renovierten Preußischen Landtag in Mitte statt. Das Rathaus Schöneberg war Geschichte.
An Einzelheiten dieser Sitzung kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber an den Unterschied zwischen dem Rathaus Schöneberg und dem neuen Abgeordnetenhaus.
Was war das für ein Unterschied?
Der Plenarsaal in Schöneberg, den es leider nicht mehr gibt, war ein ganz anderer. In Schöneberg befand sich die jeweilige Rednerin oder der Redner in unmittelbarer Nähe zur Senatsbank. Auch die Fraktionen waren sehr nahe am Redepult. Im neuen Plenarsaal im Preußischen Landtag sind die Abstände viel größer.
Die Architektur hat also mehr Distanz geschaffen.
Eindeutig. Nicht nur zwischen Exekutive und Legislative, sondern auch in der Art und Weise der Kommunikation. Ich habe in Schöneberg spontanere und direktere Reden in Erinnerung. In Mitte habe ich eher erlebt, dass vorbereitete Reden vom Blatt abgelesen wurden. Der Austausch, die parlamentarische Debatte litt darunter.
Politik als Show?
Das würde ich so nicht sagen. Aber Politik ist doch immer auch die Kraft des Wortes und des Arguments. Jemand versucht, die anderen zu überzeugen und nicht nur vorgefasste Meinungen vorzutragen – um danach wieder auseinanderzugehen. Das alles habe ich in Schöneberg viel unmittelbarer erlebt.
Das lag alles an der Architektur?
Nicht nur. Da spielte auch der Zeitgeist eine Rolle. In Schöneberg und anfangs auch in Mitte ging es ja noch um große ideologische Unterschiede. Wenn Wolfgang Wieland, der Fraktionsvorsitzende der Grünen, und sein CDU-Kollege Klaus Landowsky in den Ring gingen, dann sind da Welten aufeinander getroffen. Später, und das gilt bis heute, hieß es, Politik sei ideologiefrei geworden.
Darüber freuen sich fast alle Fraktionen.
Warum eigentlich? Ein bestimmtes Wertesystem zu haben ist doch nicht falsch. Das schließt ja nicht aus, dass man einander zuhört und von guten Argumenten überzeugen lässt.
Sie sind 1991 als Ostberlinerin nach Schöneberg in das erste gemeinsame Abgeordnetenhaus gekommen. Welchen Eindruck hatten Sie von diesem Ort? Gab es da noch diesen Geschmack des Kalten Krieges?
Natürlich. Ich wusste um die Geschichte des Rathauses Schöneberg. Wer Rias gehört hat, kannte die Freiheitsglocke. Ich habe Rias gehört, wie die meisten damals in Ostberlin. Auch Klaus Landowsky stand gewissermaßen dafür – er verkörperte das alte Westberlin. Natürlich haben sie sich gefreut über den Mauerfall. Aber der Schritt vom geteilten Berlin in ein neues, gemeinsames Berlin, der fiel den alteingesessenen Westberlinern schwer. Das hat bei vielen sehr lange gedauert.
Gab es Widerstände gegen einen Umzug des Parlaments?
Es gab Diskussionen, wo man denn hinziehen soll. Wie es ausgestattet werden soll. Bis hin zu der Frage, wie denn die Straße heißen soll, an der das neue Parlament liegt. Die CDU wollte keine Niederkirchnerstraße.
Käte Niederkirchner war eine kommunistische Widerstandskämpferin.
Wir haben den Namen schließlich durchgesetzt.
Bis heute heißt die Adresse der CDU-Fraktion „Preußischer Landtag 10111 Berlin“.
Das waren die Ausläufer der großen ideologischen Debatten. Die offizielle Adresse des Parlaments heißt Niederkirchnerstraße 5.
Keine Diskussionen gab es bei der Vergabe des Sanierungsauftrags. Ohne Ausschreibung.
Daran kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Ich war damals zum ersten Mal in meinem Leben in einem Parlament gelandet – und das eher aus Zufall. Ich war zunächst einmal damit beschäftigt zu kapieren, wie dieser Laden, wie die Demokratie überhaupt funktioniert. Welche Gremien gibt es? Was ist wichtig, und was nicht? Wie schreibt man eine kleine, eine große und eine mündliche Anfrage?
Wie hat das sanierte neue Abgeordnetenhaus jenseits des Plenarsaals auf Sie gewirkt?
Ich empfinde es bis heute als sehr gelungen. Dem geschichtlichen Gebäude, dem Denkmal, wurde Respekt entgegengebracht. Dennoch wurde es modern umgebaut, mit viel Glas und Transparenz. Ich habe sehr gerne da gearbeitet.
In Schöneberg waren Senat und Parlament in einem Gebäude. Mit dem Umzug wurde das getrennt. War das eher ein Problem für die Regierungskoalitionen als für Sie als Opposition?
Meine Kontakte zum Senat waren damals nicht so wahnsinnig ausgeprägt. Wir waren damit beschäftigt, die Opposition zu organisieren. Ich glaube aber nicht, dass das generell ein Problem war oder ist.
Die Wege zu den Journalisten sind kürzer geworden im neuen Abgeordnetenhaus.
Das stimmt.
Vorteil oder Nachteil?
Eindeutig Vorteil. Zu Mauerzeiten war es für die Medien egal, wie weit das Rathaus Schöneberg weg ist, sie kamen so oder so. Berlin war geteilte Stadt, der Regierende Bürgermeister hat die Staatschefs dieser Welt empfangen. 1989 wurde die Berliner Politik plötzlich auf Normalmaß zurechtgestutzt, da verloren auch die Medien etwas das Interesse. Und das Abgeordnetenhaus wurde ein ganz normales Landesparlament mit teilweise kommunalen Aufgaben. Das war vor allem für die Westberliner ein Bedeutungsverlust. Für mich galt das nicht.
Als Sie 1993 umgezogen sind, war die Länderfusion ja noch beschlossene Sache, sie scheiterte erst 1996 am Referendum in Brandenburg. Hätte es die Länderehe gegeben, hätte das Parlament noch einmal umziehen müssen – nach Potsdam.
Damit hätte ich gut leben können. Andere dagegen konnten sich das ganz schwer vorstellen.
Einige Westberliner Abgeordnete waren gar nicht so unglücklich über das Nein aus Brandenburg?
Definitiv. Klar. Berlin betrachtet sich selbst immer als was Besonderes. Ist es ja auch. Das bedeutet aber nicht, dass die Stadt nicht Teil eines gemeinsamen Landes mit Brandenburg sein könnte. Aber das ist erst mal kein Thema mehr.
Sie waren im neuen Abgeordnetenhaus dann Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, haben das Parlament aber 2006 in Richtung Bezirksamt Tempelhof-Schönefeld verlassen. Warum?
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 15 Jahre Abgeordnetenhaus hinter mir. Ich wollte einfach mal was anderes machen. Hier im Bezirk bist du die Regierung. Du hast relativ große Abteilungen, viel Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeiten. Das ist eine große Herausforderung.
Als Stadträtin für Soziales und Stadtentwicklung sind Sie auch wieder ins Rathaus Schöneberg zurückgekehrt.
Witzig, was?
Von der Legislative eines Landes …
… in die Exekutive eines Bezirks.
War es für Sie hilfreich, dass Sie sich hier in diesen Gemäuern bereits ausgekannt haben?
Als ich hier wieder aufschlug, habe ich mich an vieles erinnert. Gleich wenn man reinkommt, der erste Raum links, das war der Fraktionssitzungsraum der Grünen. Da gab es ein Vorzimmer. Obwohl es keine Tür zum Sitzungszimmer gab, wurde da damals noch geraucht. Oder der 195er, das war der Saal für die Hauptausschusssitzungen. Aber entscheidender als mich hier im Rathaus Schöneberg auszukennen, ist es, dass ich mich in Berliner Politik auskenne.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW