: Stadtbad Steglitz
Wer ungewöhnliches Theater am ungewöhnlichen Ort verspricht, lässt Büchners Woyzeck eben baden gehen
Der spannendste Moment jeder neuen Woyzeck-Inszenierung ist ihr Ende. Georg Büchner selbst starb 23-jährig und hinterließ nichts als ein paar lose Blätter, eng beschrieben, teilweise unleserlich. Ein ordentlicher Schluss fehlt ebenso wie die Nummerierung der Seiten: traumhafter Spielraum für den Regisseur.
Stefan Neugebauer, Gründer und Regisseur des Clubtheaters Berlin, hat sich auf seine Fahne geschrieben, „außergewöhnliches Theater, natürlich nur „für außergewöhnliche Leute“, an außergewöhnlichen Orten“ zu machen. Was dieses Mal das stillgelegte Stadtbad Steglitz ist, ein Jugendstilbau mit fast sakraler Architektur.
Neugebauer inszeniert das Stück in den Raum hinein. Die um das Becken gruppierten Umkleidekabinen werden zu militärischen Kleinstunterkünften, deren Türen freudig geöffnet werden, wenn der Soldat Woyzeck (Gerolamo Fancellu) seine Freundin Marie (Ana Filipovic) und ihr gemeinsames Kind besucht; oder zackig zugeknallt, wenn der Hauptmann (Gerhard von Druska) davorsteht und rasiert werden will.
„Woyzeck, Er sieht immer so verhetzt aus!“ Die besorgt scheinenden Worte sind aus dem Mund des Hauptmanns bloßer Vorwurf: „Ein guter Mensch tut das nicht!“ Wenn Franz Woyzeck, die ärmste Sau, die je auf die deutsche Bühne gebracht wurde, im Stadtbad Steglitz sagt: „Es muss was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann!“, und bedauert, dass ihm für derartigen Luxus die finanziellen Mittel fehlen, dann spricht er mit italienischem Akzent. Woyzeck als Gastarbeiter, freut man sich und ist gespannt auf aktuell-politische Anspielungen und Abwandlungen des 170 Jahre alten Stoffs. Aber Woyzeck bleibt tragisch wie immer: Morgens rasiert er seinen Hauptmann, tagsüber steht er in der Kaserne stramm, und zwischendurch spricht er beim Doktor vor – als Versuchskaninchen. Der hippokratische Eid ist in sein sadistisches Gegenteil verkehrt: Seit drei Monaten hat Woyzeck nichts als Erbsen im Magen und pinkelt unter Aufsicht. Alles für die Wissenschaft.
„Er ist ein interessanter Kasus, Woyzeck“, freut sich der Doktor (Friedhelm Ptok), als Woyzeck erste Symptome einer schizophrenen Störung zeigt. Woyzeck nimmt es hin zum Wohle seiner Geliebten Marie und des gemeinsamen Kindes. Klaglos gibt er seine Kraft, seine Würde und seinen Verstand. Aber dann wird ihm Marie genommen. Der eitle Gockel von Tambourmajor (Maik van Epple) verführt sie. Da erst dreht Woyzeck durch. Ein zeitloses Stück, gespielt am passenden Ort. Fancellu alias Woyzeck rennt Treppen hoch, stürzt Leitern hinunter. Der Rücken krumm, die Knie zittern. Am Schluss fällt er wieder in seine Muttersprache zurück.
Italienisch vor sich hin brabbelnd, hangelt er sich am Rand des leeren Beckens entlang, um das Messer zu verstecken, mit dem er Marie getötet hat. Büchner hat sein letztes Stück nicht vollenden können. Es bleibt offen, ob Woyzeck ertrinkt oder für den Mord verurteilt wird. Im Stadtbad Steglitz erschießt er sich, und die Stille nach dem Schuss ist erschreckend, aber neu ist sie nicht. LEA STREISAND