Staatstrauer nach Wolga-Unglück: "Wie ein alter Leiterwagen"
Nach dem Wolga-Schiffsunglück hat Russland eine Staatstrauer ausgerufen. 71 der rund 110 Toten wurden geborgen. Ermittler und Überlebende bestätigen den maroden Zustand des Schiffes.
Moskau dpa | Nach der verheerenden Schiffskatastrophe auf der Wolga mit mehr als 110 Toten haben Taucher der russischen Rettungskräfte die Leichen des Kapitäns und seiner Frau geborgen. Damit stieg die Zahl der an die Wasseroberfläche gebrachten Opfer am Dienstag auf 71, wie Einsatzkräfte nach Angaben der Agentur Interfax mitteilten.
In dem Wrack der "Bulgaria", die am Sonntag rund 750 Kilometer östlich von Moskau bei einem Sturm untergegangen war, erreichten die Taucher auch den "musikalischen Salon". Hier sollen sich zum Zeitpunkt des Unglücks 40 Kinder aufgehalten haben.
Nach dem schwersten Schiffsunglück in Russland seit mehr als 20 Jahren gedachte das Land mit einer Staatstrauer der Opfer. An öffentlichen Gebäuden wurden Fahnen auf Halbmast gesenkt, größere Veranstaltungen wurden abgesagt. Das Fernsehen verzichtete auf Werbe- und Unterhaltungssendungen. In der Stadt Kasan legten Menschen an der Wolga Blumen nieder und zündeten Kerzen an. Nach letzten Angaben waren 79 Menschen gerettet worden.
Russische Ermittler warfen den Betreibern der "Bulgaria" erneut grobe Verstöße vor. So sei das Schiff technisch marode gewesen und ohne nötige Lizenz gefahren. Die Schuld liege aber nicht allein an den Unternehmern, sie würden Verantwortungslosigkeit und korrupte Strukturen ausnutzen, hieß es in russischen Medien. "Ohne Protektion von oben kann man ein solches Geschäft nicht betreiben."
Überlebende der Havarie nannten zahlreiche technische Mängel an der über 55 Jahre alten "Bulgaria" als eine der Ursachen für den Untergang. "Der Kahn knarrte wie ein alter Leiterwagen", sagte einer der Passagiere. Das von einem Unwetter aufgewühlte Wasser sei durch die offenen Bullaugen geströmt und habe das Schiff innerhalb von drei Minuten zum Kentern gebracht. Der Kapitän missachtete nach Darstellung der Behörden Unwetterwarnungen, zudem hatte das für 140 Passagiere gebaute Ausflugsschiff viel zu viele Menschen an Bord.
An der Unglücksstelle etwa drei Kilometer vom Ufer entfernt waren weiter mehr als 100 Taucher sowie 300 Helfer im Einsatz. Der Zivilschutz kündigte an, die Zahl der Einsatzkräfte noch einmal zu erhöhen, um die Leichen rasch zu bergen. Vorbereitet wurde außerdem ein Großeinsatz zur Bergung des Wracks. Die russische Regierung hat eine Überprüfung der Binnenflotte angekündigt und will alte Doppeldeckschiffe vom Typ der "Bulgaria" aus dem Verkehr ziehen.
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