: Staatsanwaltschaft im Jagdfieber
Wegen seiner Postings auf Social Media zur Gewalt im Nahen Osten und zu den türkischen Angriffen auf die Kurden landete der ehemalige Lingener Stadtrat Ibrahim Ahmed Hassan vor Gericht. Grundlos, wie er findet

Von Harff-Peter Schönherr
In Norddeutschland hat Ibrahim Ahmed Hassan sich wohl gefühlt. Früher. Da hat er im niedersächsischen Lingen gearbeitet, Politik gemacht, sich in Vereinen engagiert. Doch dann ist er ins Visier der deutschen Justiz geraten, für die er damals gearbeitet hat. Gegen ihn wird ein Strafverfahren nach dem anderen eingeleitet. Wegen seiner Postings auf Social Media. Obwohl er doch nichts falsch gemacht hatte, nur aufklären wollte. So dachte er.
Wir treffen Hassan in der Kanzlei seines Strafverteidigers Ben Bartholdy im niedersächsischen Westerstede. Es geht um Ermittlungsverfahren und Gerichtsurteile, sämtlich Freisprüche und Einstellungen. Die Justiz arbeitet sich an ihm ab, Jahre schon. „Grundlos“, sagt Hassan der taz. „Das zermürbt.“
Hassan wird in Darbandichan geboren, 1964, einer kurdischen Grenzregion in Irak. Mit 16 Jahren wird er verhaftet, als Gegner von Diktator Saddam Hussein. Beim Militärgeheimdienst kommt er in eine Isolations- und Todeszelle. „Ich habe härteste Folter erlebt“, sagt er, und was er über Elektroschocks und gebrochene Füße erzählt, Anpfählungen und Gewichte, die an seinem Penis hingen, ist beklemmend. Er erzählt, wie er freikam, in den Peschmerga-Streitkräften der Autonomen Region Kurdistan gegen Hussein gekämpft hat.
1984 kommt Hassan in die DDR. Auch dort habe er opponiert, als Umweltaktivist, Hausarrest erlebt. 1994 wird er Staatsbürger der BRD. Er sitzt für die Grünen im Lingener Stadtrat, arbeitet als Justizvollzugsangestellter, als Dolmetscher für Polizei, Zoll und Gerichte. Sein Leben konsolidiert sich, auch wenn Drohungen gegen ihn und seine Familie Alltag bleiben. Er sagt dazu: „Ich soll über das schweigen, was ich erlebt habe.“
Aber mundtot machen lässt Ibrahim Ahmed Hassan sich nicht. Auch auf Facebook nicht. Dort kommentiert er politisch, „um aufzuklären“, wie er sagt. Schonungslos thematisiert er die Gewalt im Nahen Osten, die Angriffe der Türkei auf die Kurden, die Gräueltaten des IS.
Die Justiz, sein damaliger Arbeitgeber also, wird auf ihn und seine Postings aufmerksam. Der Vorwurf: Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Da ist, zum Beispiel, ein Bild, das Hitler und Erdoğan zeigt, nebeneinander, darunter der Namen ERDOĞAN, im „O“ ist ein Hakenkreuz, Anfang 2019 hat Hassan es geteilt.
Ein paar Monate später teilt er ein Bild, auf dem eine Menschengruppe zu sehen ist, in Militärkleidung, vermummt und bewaffnet. Vor dieser Gruppe sitzt, eine Machete in der Hand, eine Person, die Erdoğans Gesicht hat. Wegen des Teilens von Postings wie diesen klagt die Staatsanwaltschaft Osnabrück ihn an.
Es kommt zu einem Strafbefehl. Hassan erhebt Einspruch und erstreitet 2022 vor dem Amtsgericht Lingen einen Freispruch: Seine Äußerungen, so der Richter, seien durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Die Staatsanwaltschaft geht in Berufung. Das Landgericht Osnabrück verwirft sie: Die Gegnerschaft Hassans in Bezug auf die NS-Ideologie sei „offenkundig und eindeutig“.
Die Staatsanwaltschaft geht in Revision. Das Oberlandesgericht Oldenburg hebt das Urteil als „rechtsfehlerbehaftet“ auf, verweist den Fall zurück ans Landgericht. Das Landgericht verwirft die Berufung erneut. Die Staatsanwaltschaft legt erneut Revision ein. Ende 2024 verwirft das Oberlandesgericht Oldenburg diese Revision.
Bei ihrer zweiten Revision häufen sich bei der Staatsanwaltschaft die Fehler. „Die wurde offenbar ziemlich überhastet zusammengestrickt“, sagt Bartholdy der taz. „Statt meines Mandanten nennt sie einen falschen Beschuldigten, zudem ist das staatsanwaltschaftliche Aktenzeichen falsch.“ Am Ende überschreitet die Staatsanwaltschaft die Revisionseinlegungsfrist.
Derzeit hat Hassan seinen Facebook-Account inaktiv gestellt. „Damit Ruhe einkehrt“, sagt er. Aber es kehrt keine Ruhe ein. Drei neue Verfahren laufen gegen ihn. Wegen des Zeigens des Symbols der PKK und der schwarzen Flagge des IS. Weil einige seiner Postings religiöse und weltanschauliche Bekenntnisse verunglimpfen, den öffentlichen Frieden stören sollen.
Bei alldem geht es um die gezeigten Bilder, nicht um Hassans Texte. „Kein einziges der Fotos, Grafiken und Videos stammt von mir“, sagt Hassan. „Das ist Fundmaterial. Ich zeige es, um es zu kommentieren.“ Aus dem Kontext sehe man „sofort“, dass er sich dessen Inhalte nicht zu eigen mache. Unmenschlichkeiten prangert er an, ideologisch-religiöse Verblendung auch.
2007 hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass die Verwendung, sofern deren Inhalt „in offenkundiger und eindeutiger Weise die Gegnerschaft zu der Organisation und die Bekämpfung ihrer Ideologie zum Ausdruck bringt“, straffrei ist. Darauf beruft Hassan sich. Aber er steht im Fadenkreuz. Aus Lingen ist er weggezogen. Sein Justiz-Arbeitgeber hat ihn entlassen. Er ist arbeitslos.
Er bereue nichts, sagt Hassan. Er sei Demokrat. Und er hat eine Vermutung: „Da geht es gar nicht um das rein Juristische. Das ist persönlich.“ Und dann erzählt er von einer Vorladung zum Staatsschutz der Polizeiinspektion Emsland/Grafschaft Bentheim, in der es nicht zuletzt um seine Türkei-kritischen Inhalte ging. Sie sei im Dienstzimmer des türkischstämmigen Beamten Emin Otman erfolgt, an der Wand habe eine türkische Flagge gehangen. „Da konnte ich natürlich nicht an Neutralität glauben.“ Otman trat gegen Hassan vor Gericht auf.
Die Flagge sei „unter den persönlichen Gegenständen eines Kollegen mit türkischen Wurzeln“, schreibt Corinna Maatje der taz, Sprecherin der Polizeiinspektion Emsland/Grafschaft Bentheim. „Sie ist in dezenter Größe, gemeinsam und überlappend mit der deutschen Nationalflagge dargestellt.“ Die Kombination symbolisiere „die multikulturellen Aufgabenbereiche unseres polizeilichen Staatsschutzes“. Den BeamtInnen sei es „freigestellt, ihre Arbeitsbereiche individuell zu gestalten“. Otman sei an der Vernehmung beteiligt gewesen.
„Da war keine deutsche Flagge“, sagt Hassan. „Da war nur die türkische.“
Maatjes Fazit: „Die Polizei steht für Unparteilichkeit und Gleichbehandlung – unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit. Diskriminierung und Rassismus haben in unseren Reihen keinen Platz.“ Ziel sei es, „Vertrauen aufzubauen und für alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen ansprechbar zu sein – mit Respekt, Neutralität und professionellem Handeln“.
Strafbares Verhalten sei „zu verfolgen“, begründet die Staatsanwaltschaft der taz sehr formal ihr intensives Strafverfolgungsinteresse, „und die Rechtsmittel sind auszuschöpfen“. Über Hassan selbst verliert sie kein Wort. Die Fehlerhäufung bei ihrer zweiten Revision lässt sie unerklärt: „Die Revision der Staatsanwaltschaft ist als unzulässig verworfen worden“, schreibt sie knapp, als sei das eine Antwort.
Ob sie auch gegen die Urheber der Bilder vorgeht, die Hassan zeigt? „Wer Urheber war, ist hier nicht bekannt“, übermittelt Alexander Retemeyer, ihr Sprecher, der taz. „Es liegen nur die gesicherten Bilder vor.“
Auch die Lingener Grünen, für die Hassan im Stadtrat saß, haben sich mit seinen Postings auseinandergesetzt, haben mit ihm darüber diskutiert. Heiner Rehnen, ihr Fraktionsvorsitzender im Stadtrat, möchte sie und seinen einstigen politischen Weggefährten allerdings nicht kommentieren, wie er im Telefonat mit der taz mehrfach betont. Hassan, dessen Zukunft sich nicht zuletzt vor Gericht abspielen wird, ist für ihn Vergangenheit.
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