Staatenlos in Deutschland, taz-Serie Teil I: Saids Kampf gegen das Verschwinden

In Syrien war Said Alnahawi als palästinensischer Flüchtling registriert. Kein Problem – bis Krieg und Exil dazwischen kamen.

Laufen und grübeln: Said Alnahawi dreht in Darmstadt seine Runden. Bild: Torben Weiß

DARMSTADT taz | Said Alnahawi dreht wieder eine seiner Runden, die Straßen in Darmstadt sind leer am Vormittag. Eine Tram rauscht vorbei. Er folgt den Gleisen bis zum Luisenplatz, mit kurzen Schritten, das linke Bein zieht er etwas nach. Vor dem Einkaufszentrum stehen Schüler in bunten Regenjacken, ein Obdachloser. Said biegt ab in die Nebenstraße und beginnt die nächste Runde in dem endlosen Lauf, der ihn keinen Schritt vorwärts bringt.

Said muss nachdenken, einen Ausweg finden, das gehe besser, wenn er laufe, sagt er. Im Moment kreisen seine Gedanken um die immer gleichen Dinge. Seine Verwandten in Syrien. Seine Mutter in der kleinen Wohnung in Darmstadt, allein auf gepackten Kisten. Die drei schwarzen Kreuze in seiner befristeten Aufenthaltserlaubnis, die in drei Tagen ihre Gültigkeit verliert. Nationalität: XXX. Nur noch drei Tage.

Said ist in Damaskus geboren, seine Mutter ist Syrerin, sein Vater Palästinenser. Das syrische Recht schränkt für Frauen die Möglichkeit ein, ihre Staatsbürgerschaft weiterzugeben. Said und sein Bruder waren in ihrer Heimat als palästinensische Flüchtlinge registriert – auch nachdem ihr Vater gestorben ist. Im Alltag sei der Unterschied kaum zu spüren gewesen, sagt Said.

Dennoch: Syrischer Staatsbürger war er nie. Und Palästinenser ist er auch nicht, er besitzt keinen palästinensischen Pass, hat nie das Territorium betreten. Außerdem werden die Dokumente ohnehin in kaum einem Land anerkannt. Das Ergebnis dieser Konstellation: Für die meisten Nationen ist Said Alnahawi ein Geist. Staatenlos, seit seiner Geburt.

Mehr als zehn Millionen Menschen weltweit werden Schätzungen zufolge von keinem Land als Staatsbürger anerkannt, mindestens 600.000 in Europa und den USA. Sie sind staatenlos. Die taz stellt drei von ihnen vorund schaut auf drei Länder: Said in Deutschland, Maria in Polen und Mikhail Sebastian in den USA. Jeder Fall ist kompliziert, jeder Fall ist anders.

Die taz-Serie ist ein Ergebnis des transatlantischen Rechercheprojektes „Stateless Voice“. Es wird gefördert durch den Fund for Investigative Journalism, das Arthur F. Burns Fellowship des International Center for Journalists und der International Journalists Programmes (IJP) sowie das Vocer Media Lab.

Arztbesuch in Deutschland

Said schüttelt den Kopf. „Ich habe mich immer als Syrer gefühlt“, sagt er. Die meiste Zeit seines Lebens war das Land sein Zuhause, nicht der Kriegsschauplatz, der heute die Schlagzeilen beherrscht. Eine behütete Kindheit, gehobene Mittelschicht. Der Vater arbeitete als Architekt, seine Mutter hatte ihren Job als Sekretärin bei einem Hardware-Unternehmen nach Saids Geburt aufgegeben. Er hat eine Körperbehinderung, ein Gendefekt, wie er erklärt. Ein Teil der Muskeln in seiner rechten Körperhälfte steht ständig unter Spannung, schnelle Bewegungen fallen ihm schwer, manchmal hat er Schmerzen. Die chronische Überreizung verursachte auch eine Trübung seines Augenlichtes, mit 18 war Said fast blind.

Die Behandlungsmöglichkeiten in Damaskus genügten den besorgten Eltern nicht. Die familiäre Verbindung nach Deutschland ist ohnehin eng, der Vater war mit einer Deutschen verheiratet, bevor er nach Syrien zurückkehrte und dort Saids Mutter traf. Eine Halbschwester Saids lebt in Darmstadt. „Wir waren von Oktober bis Dezember 2004 für die Behandlung hier“, sagt er. Auch 2007 reiste Said noch einmal für 15 Tage nach Deutschland, ein Visum bekam er ohne Probleme. Dass er eigentlich kein Syrer ist, dass ihn de facto nie ein Staat als Bürger anerkannt hat – „das spielte für mich schlichtweg keine Rolle“, sagt er. Doch dann kam der Krieg.

Said sitzt auf der Bettkante, gelbe Laken, gelbe Wände. Eine abgewetzte, rote Ledercouch, Schreibtisch und Schrank aus hellem Holz. Die Möbel gehören der Studentenverbindung, bei der Said und seine Mutter untergekommen sind. Said spricht über das andere Syrien, das Syrien von heute. Sein Deutsch reicht für den Alltag, aber wenn er etwas präzise erzählen will, wechselt er ins Englische.

Kugeln aus dem Nirgendwo

Bis vor zwei Jahren hat er an der Universität in Damaskus studiert, englische Literatur. Während in Homs Bomben und Raketen explodieren, versuchen die Menschen in Damaskus ihr normales Leben weiterzuführen. An einem Abend im Februar 2012 ist er auf dem Heimweg von einer Prüfung, wie er sagt. Said nimmt den Bus, es ist dunkel in den Straßen, Stromausfall. An einem Checkpoint steigen Soldaten ein, kontrollieren die Ausweise. „Dann schlugen wie aus dem Nichts Kugeln im Bus ein. Wir haben uns umgesehen, sie kamen aus dem Nirgendwo. Die Soldaten mussten zurückschießen“, erzählt Said. „Ich hatte Angst um mein Leben.“

Sechs Monate später fliegt er wieder nach Deutschland, er steht kurz vor der Bachelor-Prüfung, ein Arzt soll noch einmal den Zustand seiner Augen kontrollieren. Routine, wie er sagt. Said wohnt bei seiner Halbschwester in Darmstadt. Kurz vor der Rückreise ruft ihn die Mutter aus Damaskus an: Komm nicht zurück. Es ist zu gefährlich hier. Das Touristenvisum gilt für drei Monate, einmal kann Said es verlängern. Im März 2013 endet sein regulärer Aufenthalt. Said bleibt. In solchen Fällen reagiert der deutsche Staat mit Zwangsmaßnahmen, ihm wird die Abschiebung angedroht. Nur wohin? Aus deutscher Sicht ist er kein Syrer, das Flüchtlingsdokument ist in Deutschland nicht gültig. Andere Papiere besitzt er nicht.

Die Abschiebung wird für sechs Monate ausgesetzt. Duldung. „Ich konnte nicht arbeiten, nicht studieren, ich habe nur gewartet“, sagt Said. Damals beginnt er seine Wanderungen durch die Innenstadt, in Kreisen, die immer größer werden. An den Gleisen entlang zum Luisenplatz, am Einkaufszentrum vorbei, durch die Seitenstraße Richtung Bahnhof und im Bogen zurück. Mormonische Missionare sprechen ihn an, der Mann am Hot-Dog-Stand grüßt ihn mit Namen. Said läuft und grübelt.

„Für mich bedeutet staatenlos: hilflos“

In der Zeit begegnet ihm eine Freiwillige von Amnesty International, die Organisation bietet ihre Hilfe an. Zum ersten Mal erklärt ihm jemand, was ein Aufenthaltstitel ist, wie man ihn beantragen kann. Said reicht seine Papiere bei der Ausländerbehörde ein, die ihm den befristeten Aufenthalt für ein Jahr gewährt, zu Studienzwecken. Nur bei seiner Nationalität will sich die Behörde nicht festlegen. Kein syrischer Pass, kein gültiges Ausweisdokument. Also: Staatsangehörigkeit ungeklärt. Nationalität: XXX. „Ich habe das nicht verstanden“, sagt Said. „Ich bin in Damaskus geboren, ich bin Syrer. Ich spreche Arabisch mit syrischem Dialekt.“ Irgendwo schnappt er dann ein Wort auf: Staatenlos. „Für mich bedeutet das vor allem: hilflos“, sagt Said.

Er sucht den Begriff im Internet, aber dort stößt er nur auf die Websites von Verschwörungstheoretikern. Die Hilfsorganisation rät ihm, Asyl zu beantragen – aber Said hat Angst: Was geschieht dann mit seinen syrischen Dokumenten? Kann er noch einreisen? Was, wenn der Asylantrag abgelehnt wird? Angeblich ist er doch gar kein Syrer. Auf die Fragen wissen auch die Helfer bei Amnesty keine Antwort. Said spricht mit einem Anwalt in Darmstadt, zahlt ein Beratungshonorar, aber auch der kann ihm nicht helfen.

In Damaskus gehen die Vororte in Flammen auf, Said dreht in Darmstadt seine Runden. Im Spätsommer entscheidet sich seine Mutter, das Land zu verlassen, eine Zeit lang wohnen sie zu dritt in dem kleinen Zimmer der Studentenverbindung. Dann sucht Said ein Zimmer für seine Mutter und sich. Sie spricht kaum Deutsch und fühlt sich unwohl, unsicher in der neuen Umgebung. Aber immerhin hat sie den syrischen Pass. Sie ist kein Geist, so wie er. Said kümmert sich um den Asylantrag.

Rastlose Spaziergänge

Die Verlängerung seiner eigenen Aufenthaltserlaubnis hat er auch schon beantragt. Aber an diesem Nachmittag, drei Tage vor Ablauf seines Dokuments, hat er noch keine Nachricht von der Ausländerbehörde. Abschiebung? „Unwahrscheinlich. Wohin denn?“, sagt Said, und obwohl er sich alle Mühe gibt, klingt er jetzt doch enttäuscht und bitter. „Mir gehen so viele Dinge durch den Kopf und ich kann sie nicht organisieren. Immer wenn ich etwas versuche, bringt es mich nicht weiter. Vielleicht mache ich es falsch, versuche ich nicht genug, aber am Ende steht nie, was ich mir erhofft habe.“

Said läuft einen schlammigen Pfad im Industriegebiet entlang. Hastige, kurze Schritte, der unebene Grund macht ihm das Fortkommen schwer. Ein Lkw rumpelt durch ein Schlagloch, es stinkt nach Diesel und verbranntem Gummi. Eine Autowerkstatt, ein Reifenhandel, dahinter ragen zwei weiße Minarette auf. Es war eine der großen Runden, die ihn zum ersten Mal hierher führte, vom Darmstädter Bahnhof sind es gut zwanzig Minuten zu Fuß.

Der Fußboden im Vorraum der Moschee ist gekachelt, es ist niemand da, nur aus einem Nebenraum dringt Kinderlachen. Said streift seine schweren Schuhe ab, läuft auf Socken durch die Tür und bis in die Mitte des hohen Raumes. Seine Schritte sind fast lautlos auf dem dicken Teppich. Er bleibt stehen, schaut zu Boden. Rezitiert kaum hörbar einige Koranverse auf Arabisch. Dann sinkt er auf die Knie, über ihm der gewaltige Kronleuchter. Wofür er betet? „Für meine Familie, für mein Land. Dass ein normales Leben in Syrien irgendwann wieder möglich ist.“

Ein Jahr Aufschub

Zwei Monate später. Said klingt verändert am Telefon, er spricht schnell und ruhig. Seine Aufenthaltserlaubnis wurde verlängert, für ein weiteres Jahr. Zu Studienzwecken. Und er hat einen Anwalt in Ulm gefunden, Thomas Oberhäuser, einen der wenigen Spezialisten für Staatenlosigkeit in Deutschland. Der konnte ihm erklären, was die drei Kreuze in seiner Aufenthaltserlaubnis bedeuten: Staatsangehörigkeit ungeklärt, ein reiner Registratur-Begriff, eine schwammige Zwischenlösung ohne rechtlichen Belang.

Mit der tatsächlichen Anerkennung der Staatenlosigkeit sind die Behörden in Deutschland zögerlicher. Den Nachweis überlassen sie den Betroffenen. Said muss jetzt belegen, dass ihn tatsächlich kein Staat als Bürger akzeptiert. Der Anwalt habe seine Hilfe angeboten, sagt er noch, die Anerkennung der Staatenlosigkeit sei ein kompliziertes Verfahren und könne Monate oder sogar Jahre dauern.

Aber dann bietet es vielleicht die Chance, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen und irgendwann auch einen Pass. Deutschland hat sich in einer UNO-Konvention verpflichtet, Staatenlosen zu helfen – das war allerdings schon vor 60 Jahren. Said ist dennoch zuversichtlich. „Ich bin kein Flüchtling. Ich will studieren, ich will mir etwas aufbauen. Wenn es in Syrien nicht geht, dann eben in Deutschland“, sagt er. Trotzdem hat Said nach langem Abwägen Asyl beantragt. Nur zur Sicherheit, gegen das Verschwinden.

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