Sportliche Flaggenjagd: Urbanes Jagen zwischen den Arkaden
Linke Piraten spielen Fahnenklauen am Potsdamer Platz, und keinen störts.
"Schon mal jemand mitgespielt?", fragt der Große mit dem Iro unterm schwarzen Basecap. Zwei, drei zaghafte Meldungen. So ist das immer, wird der Große später erzählen, fast jedes Mal kämen neue Leute. Wie ich heute. Gut 40 Leute sind wir, die meisten um die 20 Jahre. Antifa-Shirts, Skater-Shirts, einer sogar mit Picaldi-Shirt, drei Mädchen. Die Piratesparty lud uns per Blog am Samstagabend, 19 Uhr auf den Potsdamer Platz vor die große grüne Nostalgikampel. Zum "capture the flag", einem vor allem in den USA beliebten Geländespiel. Heute mal in den urbanen Raum verlegt.
Der mit dem Iro erklärt die Spielregeln: zwei Teams, zwei kleine Fähnchen. Eine schwarz, eine weiß, beide mit kleinem Anarcho-A in der Ecke. Wer zuerst die Fahne des anderen Teams über die Mittellinie gebracht hat, kriegt den Punkt. Wer vom Gegner abgeschlagen wird, muss zurück in seine Hälfte. Unser Spielfeld ist der gesamte Potsdamer Platz, von der Potsdamer Straße bis zum Casino. Die Mittellinie führt quer durch die Arkaden.
Wir teilen uns in zwei Teams auf, legen uns weiße Bänder über die Shirts. Unser Team zwei über Kreuz, die anderen eines quer. Wir stieben auseinander. Unsere Fahne, die weiße, legen wir nach kurzer Beratung neben den grünen Erdwall am Rande des Potsdamer Platzes. Der kleine Hang erhöht die Schwierigkeit für die anderen, finden wir. Ich geselle mich für den Anfang zu den vier Bewachern. Die anderen pirschen los, die Gegnerflagge finden.
Wenig später stürmt schon eine Handvoll Einbandiger auf uns zu. Ich renne den Erdwall hoch und runter, um sie abzuwehren. Schlage ich einen ab, umkurvt mich ein Zweiter. Einer schnappt sich unsere Fahne, wir können sie zurückerobern. Dreimal geht das so. Dann kommt unser Trupp zurück. Triumphierend, mit der schwarzen Fahne. Eins zu null. Nee, sagen die anderen. Einmal wären sie mit unserer Fahne auch über der Mittellinie gewesen. Wir widersprechen heftig. "Na gut, noch mal null zu null", schlichtet der Iro-Typ.
Die zweite Runde gehe ich mit in den Angriff. Ich luge um Häuserecken, renne zwischen Taxis über die Straße, ducke mich hinter Restaurantgästen. Durch die Arkaden gehe ich betont gemächlich. Andernfalls könne es wieder Ärger mit den Securities geben, wurde uns vorher eingebläut. Gerade als meine Kleingruppe die gegnerische Basis erspäht, haben andere von uns schon deren Fahne geschnappt. Eins zu null, diesmal zweifelsfrei.
Seit einigen Monaten trifft man sich jeden letzten Samstag des Monats zum "capture the flag", erzählt der Iro-Typ. Auch schon mal auf dem Alex oder rund um die Friedrichstraße. Mit der Piratenpartei habe die Piratesparty aber nichts zu tun. Der Konsens, so heißt es auf dem Piratesparty-Blog, liege darin, die bestehenden Verhältnisse ändern zu wollen. Zum Beispiel durch Rückeroberung des öffentlichen Raums. Anarchisch-postmodernes "reclaim the streets"? Na ja, sagt der Iro-Träger, eigentlich spiele die Gruppe momentan hauptsächlich "capture the flag". Ob man das politisch interpretiere oder nicht, müsse jeder Teilnehmer selbst entscheiden.
Für meinen Geschmack steht heute das Spielen im Vordergrund, von den Antifa-Shirts abgesehen. Auch mit dem autonomen WM-Wettbewerb, als die linke Szene zum wortwörtlichen "capture the flag", zum berlinweiten Deutschland-Fähnchen-Klau wider den Nationalismus aufrief, hat das heute nichts zu tun. Ein Blonder bemerkt, dass er durch seinen Wehrdienst gerade "gut fit" sei. Ein "Good Night White Pride"-Shirt-Träger weist das als Argument pro Bundeswehr zurück. Die Touris, Abendausgeher und Securities lassen sich dagegen erst gar nicht von uns stören. Immerhin runzeln sie mit der Stirn und drehen sich nach uns um, wenn wir vorbeiwetzen. Berlin halt.
Nach drei Stunden Rennerei über den Potsdamer Platz steht es drei zu eins für uns. Jetzt sollte nichts mehr anbrennen, ich verabschiede mich. Es ist dunkel geworden, die Bars füllen sich.
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