berliner szenen: Sportart Mich-Anstarren
Meine Haare werden ungefähr ein Mal im Monat von wildfremden Menschen kommentiert, und fast immer im Supermarkt. Jetzt ist es wieder so weit; ich seh’s dem Mann an, der vor mir in der Schlange steht, wie er sich umdreht, mich mustert. „Du“, fängt er an. „Ich sag dir jetzt mal was.“
Aber dann sagt er doch erst mal nichts, sondern nickt nur bedeutungsvoll auf meine Glatze, und ich überleg, welchen der Sprüche er jetzt gleich bringt. Vielleicht den mit Glatze gleich mutig für eine Frau. Oder den mit Glatze sieht gut aus an dir. Den würd ich heut noch am liebsten mögen, obwohl ich’s doof find, wenn mir Wildfremde sagen, wie ich so ausseh ihrer Meinung nach.
Aber der Mann sagt immer noch nichts, schaut mich einfach nur an.
„Was?“, will ich schon fragen, voll aggressiv. Aber dann sagt er bestimmt nicht das mit dem Gut-Aussehen, sondern das mit dem Besser-Aussehen: dass so ’n hübsches Mädel wie ich mit langen Haaren doch noch viel hübscher wär. Und Glatze viel zu aggressiv.
Aber auch das sagt er nicht, und ich frag mich, ob er vielleicht ’nen ganz neuen Spruch auf Lager hat, den er vielleicht gerade komponiert, beim Mich-Anstarren. So ist das ein Mal im Monat: Ich geh in den Supermarkt und komm mit Einkauf plus Spruch wieder raus.
Aber ich krieg keinen Spruch. „Ach“, sagt er und winkt ab, „das weißt du bestimmt auch selbst.“ Dann dreht er sich weg, und ich überleg, was ich denn jetzt bitte sehr schon selbst wissen soll. Das mit dem Mut? Das mit den Hübscher-Aussehen dank langer Haare?
Und dann denk ich: Nee! Ich mach mir jetzt selbst ’nen Spruch, und zwar so einen, den ich tatsächlich gern hören würde. Was Nettes, was Tolles. Oder vielleicht doch einfach nur: „Sorry fürs Anstarren, ey. Das war voll blöd.“
Joey Juschka
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