Spitze der Piraten-Partei: Erschöpfung bei den Shooting Stars
Schon zum zweiten Mal zieht sich ein prominentes Mitglied der Piraten zurück. Droht der aktuelle Höhenflug die Führung zu überfordern?
BERLIN taz | Brennt der Piratenpartei ihr Führungspersonal aus? Die politische Geschäftsführerin Marina Weisband hat ihren Verzicht auf eine erneute Kandidatur erklärt, der Berliner Landesvorsitzende Gerhard Anger ist kurzfristig ausgestiegen: Die Partei verliert damit ihre wichtigste mediale Galionsfigur, der Berliner Landesvorstand einen hoch geschätzten Moderator. Ihre Begründungen unterscheiden sich nur leicht: Weisband führte gesundheitliche Gründe an. Anger erklärte, die Arbeit habe ihn emotional zu sehr belastet.
„Beide Fälle haben nichts miteinander zu tun“, behauptet Christopher Lauer, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. „Die Parallelen sind konstruiert.“ Lauer nerven die vielen Fragen, die jetzt nach der Diskussionskultur bei den Piraten gestellt werden: Auseinandersetzungen darüber will er lieber „gesittet hinter geschlossenen Türen“ führen als in aller Öffentlichkeit.
Was die Parteispitzen so strapaziert, ist, dass sie mit dem sprunghaft gestiegenen Interesse an ihrer Partei kaum noch mitkommen. Nach der Europawahl 2009 kletterte die Zahl der Mitglieder von 2.000 auf 12.000, um dann bis zur Berlinwahl zu stagnieren. Und dann, nach dem sensationellen Wahlerfolg in Berlin vor 160 Tagen, kam der nächste explosive Zuwachs: Inzwischen sind es 21.000 Mitglieder.
„Man muss sehen“, sagt Weisband, „dass wir für so ein Interesse noch nicht ausgelegt sind.“ Die Berlinwahl habe alles sehr verändert, ihr Arbeitsaufwand hat sich in der Zwischenzeit verachtfacht, die nötigen Arbeitsstrukturen und Mittel sind aber kaum vorhanden. Erst jetzt hat die Partei eine bezahlte Stelle für den Job als Bundespressesprecher ausgeschrieben.
Marina Weisband arbeitet mit zwei Assistenten – beides Freiwillige. Wenn sie in eine andere Stadt reise, greife sie nicht auf Hotels zurück, sondern übernachte immer bei Parteifreunden. Und es kommt schon vor, dass eine Rede nicht von ihr oder einem Mitarbeiter geschrieben werde, sondern gemeinschaftlich mit anderen Parteimitgliedern im Netz. „Jeder pfuscht einem in die Arbeit“, sagt Weisband: Das sei zwar anstrengend – mache das Ergebnis aber besser.
Eine Mitte, keine Spitze
Auch wenn beide Spitzenpiraten persönliche Gründe anführen, die sie zu ihrem Rückzug bewegt haben, so passen schnelle Wechsel in den Vorständen andererseits doch auch recht gut zu den Idealen einer Partei, die sich immer wieder gegen starke Hierarchien wendet. Es gibt bei den Piraten im Grunde keine Spitze – eher eine Mitte, die die Entscheidungsfindungsprozesse koordiniert, organisiert und nach außen vertritt. Da ist es hilfreich, wenn sich kein Amtsträger an seine Scharnierfunktion zwischen Partei und Öffentlichkeit gewöhnt.
„Das Problem ist: Wir haben eine interne Diskussionskultur, die draufhaut“, so Weisband. Ähnlich hat das Gerhard Anger in seiner Rede vor der Mitgliederversammlung ausgedrückt. Er begründete seinen Rückzug damit, dass er nicht zu einer „kalten Person“ werden wolle. Die letzten Monate waren wild im Landesverband: Zwei Parteiausschlussverfahren spalten die Berliner Piraten, durch den enormen Zuwachs an Mitgliedern und Aufmerksamkeit verschärften sich unterschwellige Konflikte. Zu viel für Anger.
Sein Nachfolger Hartmut Semken kritisierte in seinem ersten Interview gleich die Abgeordneten, von deren Arbeit er „nicht begeistert“ sei. Christopher Lauer beschwerte sich daraufhin öffentlich, „der administrative Vorsitzende kackt der Fraktion erst mal schön auf den Teppich“.
Wann immer Kontroversen öffentlich werden, und das werden sie bei den Piraten recht schnell, ist er einer der Ersten, der zur Ordnung ruft und vor dem „permanenten Gesichtsverlust“ in der Öffentlichkeit warnt. Lauer fordert mehr Kontinuität in der Partei und wollte die Amtszeit des Landesvorsitzenden auf zwei Jahre verlängern. Sein Antrag scheiterte. Die Basis hat noch keine Lust auf Bedeutungsverlust.
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