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Speisekarte der Nichtachtung

■ Von ausverkauften Bananen und "Hi-Fi-Anlagen-Komplizen" im Bus: Kinder und Jugendliche sind im Ideenwettbewerb "Ossi, Wessi oder was?" mit ihren Vorurteilen umgegangen

Es geschah auf dem Rückweg vom Ostteil der Stadt in den heimatlichen Westteil. Der Vater von Katharina stand vor einem unlösbaren Problem. Er hielt seinen Fahrschein in der Hand und wußte nicht, wie der Entwerter made in East funktioniert. Dumm wie Stulle stand der Wessi auf dem Bahnsteig. Wahrscheinlich würde er noch heute dort stehen, wenn ihm nicht ein netter Ossi namens Werner zu Hilfe gekommen wäre. Mit dieser „kleinen, unbedeutenden Geste“, die die 15jährige Katharina aufgeschrieben hat, will sie mit Vorurteilen zwischen Ossis und Wessis aufräumen. Deshalb hat sie die Begegnung ihres Vaters aufgeschrieben, der sich, trotz „unterschiedlicher politischer Ansichten“ inzwischen mit Werner angefreundet hat. Die Schülerin aus Tempelhof gehört zu den Preisträgern des Ideenwettbewerbs „Ossi, Wessi oder was?“, zu dem das Kinder- und Jugendbüro „Kids beraten den Senat“ aufgerufen hatte.

150 Berliner und Brandenburger Kinder haben Bilder gemalt, Geschichten geschrieben, Theaterstücke verfaßt oder Videos gedreht. Das Kinder- und Jugendbüro wollte wissen, was es auf sich hat mit den Vorurteilen des „faulen Ossis“ und des „arroganten Wessis“, welche Visionen Kids haben, „damit aus Frust Lust im gemeinsamen Miteinander“ wird. Ganz dem Thema angemessen, wurde das Zeughaus des Deutschen Historischen Museums als Ort der gestrigen Preisverleihung gewählt, wo Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) die besten Beiträge vorstellte.

Schüler einer fünften Klasse aus Treptow stellten ihre Sicht der Dinge in einem Theaterstück dar. Ort der Handlung: ein großes Feld an der Bezirksgrenze zwischen Treptow und Rudow. Zeit der Handlung: November 1991. Fünf Treptower Kinder aus dem Osten spielen Fußball. Fünf Kinder aus Rudow machen die Ost-Kids an: „Eh. Zu blöd zum Football-Spielen. Ihr Scheißossis. Euch werden wir es zeigen.“ Auch die Ost-Kids sind nicht auf den Mund gefallen: „Scheißwessis. Selber blöd. Haut ab.“ Worte wie „Scheißossi“ und „Scheißwessi“ fallen, ein Schrei, die dicke Julia ist mit Dennis aus Rudow zusammengestoßen. Nachdem die Kinder mit Entsetzen feststellen, daß sie die Vorurteile ihrer Eltern nachplappern, kommen sie zu der Erkenntnis, daß „doch alle gleich sind“.

Ob die Lehrerin aus Dresden, die an einer Schule in Schöneberg unterrichtet, die Bürgermeisterin aus dem Westen, die ein Dorf im Osten umkrempeln will oder Mitschüler aus der anderen Hälfte der Stadt – für die Kids ist die Mauer in den Köpfen gefallen. Was sie selbst schaffen, verlangen sie auch von den Erwachsenen. „Sonst werden wir alle, ob Ossis oder Wessis“, so ein Schüler aus Schöneberg, „eine traurige Erfahrung machen müssen.“ – „Es wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen, damit nicht mehr Ossi, Gernegroß, Arbeitsplatzvermieser oder sonstige Ausdrücke auf der Speisekarte der Nichtachtung stehen“, schreibt eine Schülerin aus Neukölln, die nach dem Fall der Mauer selbst mit Vorurteilen zu kämpfen hatte. Die damals Neunjährige, die „die östlichen Mitmenschen an ihren sogenannten Ostbeuteln“ erkannte, fluchte „manches Mal, wenn die Bananen ausverkauft waren“ oder „wenn sich so ein lieber Hi-Fi-Anlagen-Komplize im Bus reichlich dick machte“. Jetzt, um einige Jahre älter und einiges schlauer, rät sie allen andern: „Handeln und nicht viel reden, Betroffenen beistehen und helfen, wo es nur geht.“ Sie weiß, was „die sogenannten Ossis“ wollen: „Ganz normal behandelt werden!“ Barbara Bollwahn

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