Speerwurf bei der Leichtathletik-WM: Mit dem Stemmbein voran
Nur ein Athlet hat den Speer jemals weiter geschleudert als Johannes Vetter. Die Qualifikation fürs Speerwurffinale wird er locker überstehen.
Johannes Vetter sagt, dass er schon beim Einwerfen gespürt habe, dass es weit gehen würde an diesem Abend von Luzern. Speerwerfer haben so etwas im Gefühl – und Vetters Gefühl sollte nicht trügen. Bei 90,75 Meter landete Wurf Nummer eins, Vetters erster über diese als magisch bezeichnete 90-Meter-Marke. Ihm folgten Würfe über 91,06 Meter, 93,06 Meter und – um den Wahnsinn gänzlich perfekt zu machen – schließlich 94,44 Meter.
Es war eine unglaubliche Serie, die der junge Mann aus Offenburg an diesem lauwarmen Juliabend abfeuerte, und es war ein Wurf in die Geschichtsbücher. Dort steht der 24-Jährige seither als zweitbester Speerwerfer aller Zeiten, nur Weltrekordler Jan Zelezny (98,48 Meter), der große Tscheche, hat das 800 Gramm schwere Gerät jemals weiter geworfen, zumindest seit im Jahr 1986 der Schwerpunkt des Speeres nach vorne verlagert wurde.
Seine Leistungsexplosion macht Johannes Vetter von ganz allein zu einem der Favoriten, wenn am Samstag die Medaillen im Speerwurf vergeben werden bei dieser WM in London. Kirre machen lässt sich das Kraftpaket von der LG Offenburg davon nicht. „Damit muss ich leben. Damit kann ich umgehen“, sagte er: „Es ist doch klar, dass ich jetzt nicht alle Tage über 90 Meter werfe. Deswegen wäre ich auch mit 88 oder 89 Metern zufrieden. Das ist immer noch Weltklasse.“ Das ist eine sehr gesunde Einstellung.
Sie passt zu einem, der sich immer noch als Lehrling sieht, obwohl er ja schon in den Rekordlisten steht. „Ich bin ja noch relativ jung, da gibt es auf jeden Fall noch Reserven. Auch bei den 94,44 haben wir noch technische Fehler entdeckt“, sagt Vetter und meint damit Bundestrainer Boris Obergföll, der sein Heimtrainer ist.
Wegen Boris Obergföll, der vor seiner Hochzeit mit der ehemaligen Speerwurfweltmeisterin Christina Obergföll Boris Henry hieß und ebenfalls Speerwerfer von Weltklasse war, ist Vetter vor rund zweieinhalb Jahren von Dresden nach Offenburg gewechselt. In Dresden, so erinnert sich der 24-Jährige, ging es einfach nicht mehr weiter mit ihm und dem Speer. „Ich brauchte neue Reize, um die letzten Prozente rauszukitzeln.“ Nach einem Gespräch mit Obergföll entschloss er sich zu seiner persönlichen sportlichen Wende – und zog ins Badische.
Der Thronfolger
Vor allem an der Technik galt es zu feilen. Vetter bezeichnet sich zwar immer noch als „Haudrauf“. Er hat aber auch längst verinnerlicht, dass Technik „das höchste Gut ist, die größte Komponente“. Speerwerfen ist schließlich eine ebenso komplexe wie diffizile Angelegenheit. „Die Geschwindigkeit des Anlaufs in den Wurf zu bringen, ist eine große Herausforderung“, sagt Vetter.
Soll er erklären, wie das funktioniert, spricht er von Druck- und Stemmbein sowie von Setzzeiten, die es zu verkürzen gelte, um in eine bessere Wurfposition zu kommen. Er weiß, dass das etwas kompliziert klingt, weshalb er vereinfacht zusammenfasst: „Wir haben die Technik um 180 Grad gedreht und mehr Schnelligkeit trainiert.“
In Offenburg fand Vetter für all das perfekte Voraussetzungen vor, Werferhalle inbegriffen. Hier reifte schon Christina Obergföll zur zweifachen Silbermedaillengewinnerin bei Olympia sowie zur Weltmeisterin heran. Im ersten Jahr waren die beiden noch Trainingspartner. Nun ist der 24-Jährige, wenn man so will, ihr Thronfolger. Nicht nur Trainer und Manager sind dieselben, auch den Sponsor, einen international tätiger Hersteller von Tunnelbohrern, hat er übernommen.
Dass sich der Umzug ins Badische sportlich gelohnt hat, steht außer Frage. Mit einer Bestleistung von 79,75 Meter kam Vetter zu den Obergfölls. Auf 89,57 Meter steigerte er sich zum Ende der Vorsaison. Nun, Anfang Juli, hat er auf jene 94,44 Meter von Luzern erhöht. Eine Verbesserung von fast 15 Metern in zweieinhalb Jahren, das ist enorm – und weckt natürlich Argwohn. Vetter weiß, dass der Sport daran selbst Schuld trägt. Vetter sagt aber auch: „Es ist nicht meine Schuld. Deshalb muss ich mir jetzt auch keinen Stempel aufdrücken lassen.“
Es ist eine diffizile Angelegenheit. Fast so diffizil wie das Werfen eines Speers.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr