Special Olympics in Berlin: Kämpfen wie alle anderen
Bei den nationalen Meisterschaften wird für die Special Olympic World Games geprobt. Für Kugelstoßer Müller geht es um mehr als sportlichen Erfolg.
„Auf der Startbahn 1: Maaaarviiin Müüüüllerrr“, tönt es aus den Lautsprechern im Olympiapark in Berlin. Auf der Tribüne jubeln und klatschen etwa hundert Zuschauer*innen ausgelassen. Sie sind zur Laufbahn gekommen, um sich den Sprint über 75 Meter anzuschauen. Der Sonne stellt sich an diesem Nachmittag kein Wölkchen in den Weg, so ist es fast 30 Grad warm. Die basslastige Musik dröhnt im nervösen Wechsel zu den Ansagen der Veranstalter aus den Boxen.
Marvin Müller hingegen wirkt fokussiert und ruhig. Er dehnt und streckt seine Glieder und wartet dann in leicht gebeugter Haltung an der Startmarkierung auf das entscheidende Signal. Zunächst kann sich Müller noch an die vordersten Läufer heften, doch dann fällt er ein wenig zurück. Mit dem vierten Platz verpasst er das Siegertreppchen nur knapp.
Die Enttäuschung hält sich in Grenzen. Für Müller geht es um mehr als um Platzierungen bei dieser nationalen Meisterschaft, die den sperrigen Titel „Special Olympics Nationale Spiele Berlin 2022“ trägt. Er möchte Teil von etwas sein. „Wir sind alle Menschen, ob mit oder ohne Handicap.“
Die Special Olympics fanden erstmals 1968 in den USA statt. Sie sind eine globale Inklusionsbewegung. An diesem Event können Menschen mit geistigen Einschränkungen teilnehmen. Es ist auch möglich, dass, wie es heißt, „Athleten und Partner“ mit und ohne Behinderung gemeinsam zu den Spielen antreten.
Probleme in der Pandemiezeit
Die deutsche Ausgabe dieser Spiele, die diese Woche in Berlin ausgetragen werden, steht unter besonderer Beobachtung. Sie ist zugleich die Generalprobe für die Special Olympic World Games, die 2023 in der deutschen Hauptstadt stattfinden sollen. Bereits diese kleinere Ausgabe hat eine beträchtliche Größe. Etwa 4.500 Sportler*innen treten in 20 Sportarten an. Dabei geht es auch um die Qualifikation für die Special Olympic World Games 2023. Marvin Müller berichtet von einigen technischen Problemen. „Am Montag bin ich zum Laufen in strömendem Regen angetreten, und auf einmal gab es einen Stromausfall, dann waren alle Anzeigen aus“, erzählt er recht amüsiert. „Aber wir haben es trotzdem durchgezogen.“
Teilnehmen ist das Wichtigste bei den Wettkämpfen. Durch eine Klassifizierung in verschiedene Leistungsstufen wird versucht, eine annähernde Chancengleichheit herzustellen. „Ich will gewinnen, doch wenn ich nicht gewinnen kann, so will ich mutig mein Bestes geben“, lautet der offizielle Eid der Special Olympics. Und das ist spürbar im Olympiapark: Hier werden die Mutigen gefeiert, und niemand redet vom Verlieren.
„Viele Menschen mit Handicaps wissen nicht viel über Gesundheit und Bewegung“, sagt Müller, „Ich will darüber informieren, wie wichtig Sport ist, und Angebote machen, um in Bewegung zu kommen.“ Er ist Gesundheitsbotschafter bei den Special Olympics und klärt in dieser Funktion seine Mitstreiter:innen auf. „Besonders gut bin ich im Organisieren“, erklärt der 23-Jährige. „Ich mag es, wenn ich etwas gut geplant habe und es dann durchgeführt wird, und am Ende gibt es noch tausend Dankeschöns als Feedback.“
Er selbst habe schon erfahren, wie schnell sich die Leistungsfähigkeit ändert. „Ich bin nicht mehr so schnell wie früher und komme schneller außer Atem“, sagt Marvin Müller. In der Pandemiezeit sei eines zum anderen gekommen – wenig Bewegung, weil man sich nicht treffen konnte, und Muskelabbau –,und er habe sich nicht immer gesund ernährt. Durch die Spiele sei die Motivation wieder voll da. „Ich möchte unbedingt bei den World Games nächstes Jahr dabei sein! Es macht Spaß und gibt mir etwas.“
Und auch in den Köpfen der Leute müsse sich etwas ändern, erklärt Müller. Als Mensch mit geistiger Behinderung laufe er Gefahr, abgestempelt zu werden, für „nicht ganz zurechnungsfähig“ gehalten zu werden. Über den Sport könnten Tausende Athlet*innen beweisen und zeigen, was sie ausmacht, wie sie kämpfen und jubeln, wie sie gewinnen und verlieren können. Genau wie alle anderen Menschen auch.
Gewonnen hat Müller übrigens auch. Das Kugelstoßen machte er mit links, wie er selbst sagt. Das stimmte sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Ihm glückte der weiteste Wurf in dieser Disziplin.
Bei der Siegerehrung senkt Marvin Müller den Kopf, um seine Medaille entgegenzunehmen. Dann strahlt er über das ganze Gesicht und reckt die Arme in die Höhe. Er sagt stolz: „Das hätte ich nicht für möglich gehalten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Innereuropäische Datenverbindung
Sabotageverdacht bei Kabelbruch in der Ostsee
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom