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Archiv-Artikel

Spaß an der Verletzung

Bis das Blut kommt: Paul Hough wagt sich mit seinem Dokumentarfilm „The Backyard“ in den Underground des US-Wrestlings, wo Hobbykämpfer in der Freizeit auf ihre Freunde eindreschen

VON HARALD FRICKE

Sie heißen nicht John Rambo, Rob Van Dam oder The Rock, sondern Scar, Chaos oder schlicht und einfach Sic. Schon an den Namen erkennt man den Unterschied zwischen den Heroen der World Wrestling Federation und ihren jugendlichen Nacheiferern, die sich zu Backyard-Wrestling-Teams überall in den USA zusammengeschlossen haben.

Da ist aber noch etwas, was die beiden Welten voneinander trennt: Während die Profis ihre Showkämpfe als gut geöltes Ganzkörperschauspiel vermarkten, ohne sich gegenseitig groß zu verletzen, schlagen die Kids in den Hinterhöfen tatsächlich mit einer Inbrunst und Leidenschaft zu, bis Blut kommt.

Meistens läuft bei den Fights eine Videokamera mit, die alles aufzeichnet: gebrochene Nasenbeine, von Stacheldraht malträtierte Oberleiber, Stichwunden und Glühbirnensplitter im Gesicht. Die Bilder der ultrabrutalen Auseinandersetzungen kursieren massenweise im Internet. Mittlerweile gibt es in Amerika weit über 20.000 Sites, die sich mit dem Sport beschäftigen – denn als Sport, nur eben Hardcore, verstehen die kaum 17-jährigen Jungs (und ein paar wagemutige Mädchen) das grausame Theater, das sich jedes Wochenende in den Suburbs und ländlichen Gegenden von Sacramento bis New York State als Gemetzel abspielt. Schließlich ist es gerade die Echtheit der erlittenen Qualen, die von den Protagonisten mit zunehmender Wonne – auch wegen der anwesenden Kamera – zelebriert wird.

Keine Frage, das Thema ist heikel und der Kosmos dicht geschlossen, wie bei so vielen ehemaligen Undergroundbewegungen von Skatern bis Snowboardern. Kann man daraus einen Film machen, der nicht nur die In-Crowd bedient, sondern der Szene auch gesellschaftlich ein paar übergreifende Überlegungen abgewinnt? Oder wird das Extrem nur als Ausnahme von der Regel gefeiert – als Kumpanei mit der abgedrehten Jugend à la Larry Clark?

Paul Hough jedenfalls hat mit seiner Dokumentation „The Backyard“ bereits vor fünf Jahren begonnen. Zuvor war der Filmemacher als Fernsehregisseur für die Actionshow „Reverse Angle“ zuständig, für die er berühmte Gäste aus der Musikbranche und aus Hollywood zu ihrer Begeisterung für Extremsportarten interviewte. In einer Folge wurde unter anderem die Frage gestellt: „Wie ist es für einen Heteromann, nackt Liebesszenen mit einem anderen Mann vor hunderten von Leuten darzustellen?“

Offenbar besitzt der in England geborene Hough, dessen Vater selbst früher Horrorfilme drehte, ähnlich wie Clark ein feines Gespür für physische Ausschweifungen. Und ohnehin ist das Interesse an der Übertretung seit „Jackass“ weit gestreut: Zeige mir, von welcher Norm du abweichst, und ich sage dir, wer du bist. Die Kids wiederum wissen, nach was für Bildern Hough auf seinem Trip durch die Finsternis des White Trash sucht – und sie liefern das explizite Material mit einem Lächeln. Mal zeigt Chaos die langen Narben auf Schultern und Stirn, während er mit Geschichten von allerlei Schmerzen prahlt, die er seinen Kontrahenten zugefügt hat. Von Scar erfährt man, dass er als dreijähriges Kind schwere Nierenoperationen erdulden musste und mittlerweile an den eigenen Verletzungen einigen Spaß gefunden hat, weil ihm die Verausgabung im Wrestlingring hilft, mit den jahrelangen Torturen fertig zu werden. Auch seine Eltern sind mit den Kämpfen einverstanden, solange ihr kränkelnder Sohn dadurch nicht mehr Außenseiter in der Clique ist.

Folgt der Kampfsport also bloß der Devise, dass der Skorpion den Skorpion heilt? Ist Backyard-Wrestling womöglich eine Art Identitätsbildung durch Gewalt, bei der sich die Fighter im Fight ihres Andersseins bewusst werden? Nein, keinesfalls.

Die Kids suchen nicht nach einem Gegenmodell, sondern sie leben in einer Art Paralleluniversum zu den populären Formen von Wrestling. Jeder hofft, irgendwann zu einer Audition der offiziellen Federation eingeladen zu werden. Obwohl Lizard schon 30 Jahre alt ist und als Familienvater den Lebensunterhalt bei Pizza Hut verdient, ist er in der Hingabe an den Kampfsport auf der Stufe eines Zehnjährigen stehen geblieben: Stolz führt er Hough in sein Schlafzimmer, das mit originalverpackten Wrestlingfiguren voll gestellt ist.

Für Lizard bleibt der Traum intakt, selbst als er bei einem Casting in Las Vegas als Nachwuchswrestler abgelehnt wird – zu sehr ist er davon überzeugt, dass man es mit „action, knowledge and determination“ ganz nach oben schaffen kann. Am Ende reicht ihm schon ein Job bei einem drittklassigen Wrestlingverein, wo Lizard vor johlenden Teenagern von zwei Fleischbergen in die Mangel genommen wird.

Bei aller Härte ist Hough ein kluger Beobachter des Geschehens. Wenn die Kämpfe eskalieren, hält er sich mit der Kamera zurück und lässt stattdessen im Gegenschnitt einen Jungen aus der Nachbarschaft reden, der Backyard-Wrestling für kindisches Imponiergehabe hält. Trotzdem wäre manche Bizarrerie weniger bizarr, wenn Hough ab und zu nachgefragt hätte. So erfährt man nichts darüber, wie die Kids mit Gewalt umgehen, wenn sie nicht gerade auf ihre besten Freunde einprügeln. Unvermittelt meint Chaos einmal, die Fights wären für ihn wie gay bashing – da wüsste man gerne mehr über den Zusammenhang zwischen den kampferprobten Männerbünden und der unterschwelligen Homophobie.

Vor allem fragt man sich, ob die Outcasts nicht längst in den Mühlen der US-Gesellschaft mitmahlen: Haben in Abu Ghraib womöglich bloß ein paar Soldaten und Soldatinnen ihre militärischen Aufgaben mit den eigenen Survivalsessions beim Backyard-Wrestling verwechselt?