■ Spätlese: Pubertätsromane
„Die Pubertät“, sagt Arthur Koestler, „ist die Seekrankheit des Gemüts.“ Selbst ausgeglichene Menschen mit einer Innenausstattung aus rostfreiem Edelstahl erinnern sich nur mit Schrecken an diese Lebensphase, in der die Schwankungen das einzig Verläßliche scheinen und die eigene Egozentrik häufiger als Qual denn als Glück erlebt wird. Der Übergang in die Adoleszenz gestaltet sich dann auch meist als die Erfahrung der Beiläufigkeit: das eigene Ich mit sich führen zu dürfen, ohne ihm ganz und gar ausgeliefert zu sein, eine „Rolle“, einen „Platz“ in der Welt zu finden, der die Konfrontation mit sich selbst in der Totale überflüssig macht. Wie aber dahin kommen?
Es ist eigentümlich, wie wenig Literaten sich der Pubertät angenommen haben, wenn man bedenkt, als wie wesentlich diese Phase im Leben aller erinnert wird, welche die Hebephrenie überstanden: Es gibt die Romane „Unterm Rad“, „Schüler Gerber“, natürlich den „Zögling Törleß“ (Werke männlicher Autoren über männliche Pubertierende); es gibt das Drama „Frühlings Erwachen“ und die Novelle „Tonio Kröger“ (dito): und sonst? (Diese Aufzählung ist sicher nicht vollständig; für Ergänzungen ist die Autorin dankbar, außerhalb der Ziehung laufen allerdings Bildungsromane, die auch die Pubertät behandeln.)
Vielleicht ist dieser Lebensabschnitt doch zu sehr mit Scham besetzt, als daß man ihn sich zurückrufen wollte. Eine Ausnahme von dieser Schamregel ist ein Frühwerk Falladas, das dank seines kürzlich begangenen Jubiläums in einer Wiederauflage auf uns gekommen ist: „Der junge Goedeschal. Ein Pubertätsroman.“
Fallada hat sich von seinem Frühwerk vollständig entbunden, nachdem er mit dem realistischen Wirtschaftskriminalroman „Bauern, Bonzen, Bomben“ einen großen Erfolg hatte. Er sorgte sogar dafür, daß die beiden expressionistischen Romane „Goedeschal“ und „Anton und Gerda“, die auch bei Rowohlt erschienen waren, aus den Bibliotheken verschwanden, als das Interesse an dem „Volksautor“ stetig zunahm: schambesetzt war hier nicht nur die Pubertät, sondern auch ihre literarische Verarbeitung.
Die war eine durchaus modische. Der angestrengte, lyrisch parfümierte, schnell verlogen wirkende „Stil“ des Expressionismus mag zehn Jahre nach seinem Höhepunkt ähnlich peinlich gewirkt haben wie Schlaghosen in den Achtzigern. Aber wie auch hier nur genügend Zeit vergehen mußte, um die Sünden der Väter neu begehen zu können, entdeckt man aus der Distanz heraus am „Jungen Goedeschal“ eine überraschende, ganz seltene Qualität: das Schwanken der Seele, die so schwer begründbare Qual der Heranwachsenden kann vielleicht nichts so gut beschreiben wie der Expressionismus – in seiner Überspanntheit und Überanstrengung, in seiner atemlosen Wichtigtuerei, in seiner rührenden Verletzbarkeit und Ironiefreiheit. „Die breiten Stämme der Platanen mit ihren trüben, grau verwaschenen Flecken stimmten Kai traurig. Ihre namenlos fremde Gebärde, dieses In- Stein-Verwurzeltsein schien ihm doch ein wenig Verwandtschaft. Auch ihrem Erleben blieben die Dinge des täglichen Seins fremd...“
Fallada hat sich geschämt, Heidegger ist dabei geblieben und kam irgendwann wieder in Mode: Man muß nur warten können, wie beispielsweise auch Ernst Jünger, dem die Brustwarzen einer „üppigen Negerin“ auch eigentlich seinsfremd, aber neulich erst wieder – dann doch – der Beschreibung dienlich waren ... Wie es aber so ist mit historisch bedeutsamen Wiederauflagen, hätte man sich vom Aufbau Verlag nicht nur das schön gestaltete Buch selbst gewünscht, das es geworden ist: sondern auch vom groß gedruckten Herausgeber oder einem anderen kundigen Menschen ein kluges Nachwort, das LeserInnen, denen die Biographie Falladas nicht so geläufig ist, einige Anhaltspunkte bietet zum darin beschriebenen Vorkommen. Ganz abgesehen davon, daß die Geschichte dieser expressionistischen Romane selbst und ihr „Stellenwert im Werk“, wie es immer so schön heißt, mit Gewinn für jedermann zu erzählen ist. Aber „Irene schwieg, und Kai fragte in sich, ob auch sie's nicht merkte, wie umsonst Reden, da Wind vorher wie nun wehte, – Wind, der nichts weiß...“
Hans Fallada: „Der junge Goedeschal. Ein Pubertätsroman“. „Anton und Gerda. Ein Roman“. Aufbau Verlag, 542 Seiten, geb., 58 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen