Soziologin über Fan-Patriotismus: „WM 2006 als nationales Coming-out“
Die Zeit der Fußballpartys in Schwarz-Rot-Gold beginnt. Was genau treibt die Menschen ins Nationalkostüm? Die Soziologin Dagmar Schediwy hat sich auf Fanmeilen umgehört.
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taz: Frau Schediwy, Fußball, „Partyotismus“ und die Nation als Marke – damit haben Sie sich intensiv beschäftigt. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse nach den letzten drei großen Turnieren?
Dagmar Schediwy: Zunächst einmal, dass der Fußball für die Fans gar nicht so sehr im Vordergrund stand. Viel wichtiger war das Gemeinschaftserlebnis. Gefühle von Zusammenhalt und Zugehörigkeit, die sie offenbar im Alltag vermissen.
Welche Rolle spielte das Bekenntnis zur Nation?
Die meisten, die ich unter anderem auf den Fanmeilen befragt habe, haben während der WM 2006 ein nationales Coming-out erlebt. Vorher war das offene Zurschaustellen von Nationalgefühl stärker tabuisiert. Erst als dieses Verhalten in den Medien als Normalisierung des Verhältnisses zur eigenen Nation begrüßt wurde, haben sich die Leute massenhaft getraut, Deutschlandflaggen zu schwenken.
Das wurde von vielen als Befreiung empfunden. Besonders stark war das bei jüngeren InterviewpartnerInnen ausgeprägt. Sie lehnten auch mit Vehemenz eine Festschreibung des Deutschlandbildes auf den Nationalsozialismus ab. Der 2006 aufflammende Fußballpatriotismus trug Züge einer Revolte gegen ein Geschichtsverständnis, das sich auf den Holocaust fokussiert.
Aber wollten die meisten nicht einfach nur eine „geile Party“ feiern?
ist Sozialpsychologin. Soeben sind ihre Forschungsergebnisse unter dem Titel: „Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold? Der Neue deutsche Fußballpatriotismus aus sozialpsychologischer Perspektive“ im LIT-Verlag erschienen.
Ich habe die Fans dazu befragt, was es für sie bedeutet, Schwarz-Rot-Gold zu tragen und Deutschlandfahnen zu schwenken. Der „Spaßnationalismus“ landete bei den Motiven auf dem letzten Platz! Die meisten wollten damit ihre Zugehörigkeit zum Land und zur Mannschaft ausdrücken.
Haben sich die Antworten zwischen der WM 2006 und der WM 2010 verändert?
Mit der EM 2008 wurde die eventbezogene Begründung häufiger. Die Interviewten wiesen schon fast im Kniggegestus darauf hin: „Es ist EM/WM. Da trägt man so was.“
Wie war das Verhältnis zu den Nationalspielern mit Migrationshintergrund?
Die wurden von den meisten akzeptiert. Diese Zustimmung war aber oft mit Nützlichkeitsmotiven verbunden. Nationalspieler mit Migrationshintergrund wurden deshalb akzeptiert, weil sie das Image Deutschlands als weltoffenes Landes verbreiten, um die „schlechte Vergangenheit des Landes“ aufzubessern und weil „sie uns weiterbringen“.
Hat das zu einer stärkeren Akzeptanz von Menschen mit Migrationshintergrund geführt?
Es lässt sich eher eine Einteilung in gute und schlechte MigrantInnen erkennen. Die „guten“ sind diejenigen, die sich wie die Spieler der Nationalelf durch Leistung integrieren, die „schlechten“ diejenigen, die das nicht können oder wollen. Außerdem ist die Beziehung zu den Spielern der eigenen Mannschaft im Sport immer libidinös besetzt.
Die Zuneigung zur Mannschaft überdeckt feindselige Empfindungen. Auch die ausländischen Spieler großer Klubs werden, solange sie erfolgreich sind, geliebt. Das heißt aber nicht, dass Menschen mit Migrationshintergrund im Alltag eine größere Akzeptanz erfahren.
Haben Sie Ihre InterviewpartnerInnen auch zum Frauenfußball befragt?
Ja, das waren die merkwürdigsten Interviews überhaupt. Die Einführung des Themas hat fast regelmäßig zu einer atmosphärischen Störung geführt. Ich hatte den Eindruck, dass die Gefühle meiner InterviewpartnerInnen förmlich einfroren. Das Überschwängliche, Euphorische, das die Interviews auf der Fanmeile prägte, war schlagartig weg.
Wie erklären Sie das?
Mit „Kognitiver Dissonanz“. In der Sozialpsychologie bedeutet das, dass Vorstellungen als schwer miteinander vereinbar wahrgenommen werden. Fußball und Weiblichkeit scheinen im Bewusstsein vieler Menschen, Männer wie Frauen, noch immer einen Gegensatz zu bilden.
Das haben die Medienkampagnen im Vorfeld der Frauenfußball-WM, die dem heterosexuellen Schönheitsideal gemäß die Attraktivität der Spielerinnen betonten, eher unterstrichen als widerlegt.
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