Sozialpolitik: Kevin - ein Opfer mit System

In Bremen steht der Amtsvormund des kleinen Kevin vor Gericht. Ihm waren von der Sozialbehörde 250 Mündel anvertraut - er sollte sich um keines richtig kümmern.

Prozessakten im Sitzungssaal: Vor dem Bremer Landgericht muss sich derzeit Kevins staatlicher Amtsvormund verantworten. Bild: dpa

Gegen die gesamte Spitze des Bremer Amtes für Soziale Dienste hat die Staatsanwaltschaft nach dem Tod des zweijährigen Kevin ermittelt. Fast ein Dutzend Fachleute hatten sich um das Kind und seinen drogenabhängigen Ziehvater gekümmert - wer also sollte dafür verantwortlich sein, dass die Hinweise auf eine Gefährdung des Kindes systematisch übersehen wurden? Die Verfahren wurden alle eingestellt. Übrig geblieben ist ein Strafverfahren gegen den Amtsvormund wegen fahrlässiger Tötung.

"Ein Vormund, das ist doch so etwas wie ein Ersatz-Vater", sagt die Richterin. Warum hat der Vormund sein "Mündel" nicht regelmäßig besucht? Warum hatte er nicht die 600 Seiten dicke Akte des Amtes für Soziale Dienste über das Kind und den Ziehvater gelesen, in der Hinweise auf Gewalttätigkeiten standen? Wie konnte er im April 2006 dem Familiengericht schreiben, dem Kind gehe es gut, es besuche eine Kindertagesgruppe und es gebe eine "enge Kontrolle" durch den verantwortlichen Case-Manager?

Grenze überschritten

Und warum ist auch nach dem 6. Juni 2006 wochenlang nichts passiert, obwohl der Vormund doch schriftlich mitgeteilt hatte, der Ziehvater habe mit seiner Nicht-Einhaltung von Terminabsprachen eine "Grenze überschritten"? Strafrechtlich sei diese letzte Frage ohne Belang, wendet der Verteidiger ein, Kevin war da schon tot. Am 10. Oktober 2006 wollte der Amtsvormund mit einem Schutzpolizisten in die Wohnung des Ziehvaters gehen, um das Kind herauszuholen. Als das Polizeirevier ihm mitteilte, bei einem so gewalttätigen Mann würde sie das nur mit dem SEK machen, war er entsetzt. Die Leiche des Kindes lag da schon vier Monate im Kühlschrank.

Offenbar ein klarer Fall von Vormund-Versagen. Aber das Versagen war gewollt, das wird in diesem Prozess deutlich. Die Akte des Sozialamtes, die vom Case-Manager geführt wird, durfte der Amtsvormund nicht einsehen - aus Datenschutzgründen. Die Amtsvormundschaft war damals personell so ausgestattet, dass ein Amtsvormund für 250 Mündel zuständig war - einen persönlichen Kontakt zwischen Amtsvormund und Mündel sollte es offenbar nicht geben. Er musste sich um alle Rechtsfragen seiner 250 Mündel kümmern, so berichtet der Vormund von Kevin. Er sei quer durch Norddeutschland gereist, wenn einer der Minderjährigen Probleme in seinem Heim hatte oder vor dem Jugendrichter stand.

Kein dringender Fall

Diese 250 Kinder oder Jugendlichen kamen aus schwierigen Situationen, den Eltern wurde irgendwann das Sorgerecht entzogen. Unter diesen Bedingungen kann ein Vormund nur einschreiten, wenn ihm ein Problem gemeldet wird. Ihm sei im Fall Kevin aber kein Problem gemeldet worden, sagt der Vormund, im Gegenteil. "Ich schäme mich, Ihnen zu sagen: Es war für mich kein dringender Fall." Das System ist so ausgelegt, dass bei dem Sozialarbeiter alle Informationen zusammenlaufen. Was der Sozialarbeiter dem Vormund nicht sagt, das weiß der nicht.

Auch als sich die Behördenspitze einmischte, wurde der Amtsvormund nicht misstrauisch. Bürgermeister Jens Böhrnsen hatte einen Hinweis bekommen und und im Frühjahr 2006 einen Bericht über den kleinen Kevin angefordert. Es sei deutlich gewesen, so der Amtsvormund vor Gericht, dass die Amtsleitung eine Entwarnung nach oben melden wollte. So konnte die damalige Sozialsenatorin Karin Röpke den Bürgermeister beruhigen, ihre Experten hätten alles unter Kontrolle. Zwei Monate später war Kevin tot.

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