: Soziale Schieflage ist das Problem
betr.: „Integrationskurs für Deutsche“, taz vom 29. 5. 01
Der Text von Eberhard Seidel lässt einen mit einem unguten Gefühl zurück. Ausländer müssen – so die Botschaft – dank Sachzwängen ins Land geholt werden, und alle haben diese Sachzwänge zu akzeptieren. Dies Sicht verbindet dann Seidel wohl noch mit einem aufklärerischen Anspruch.
Eine solche Argumentation oder Sicht ist aber durchaus nicht ganz unbedenklich, wenn nicht gar gefährlich:
1. Die Sachzwänge, die Seidel instrumentalisiert, können nicht losgelöst vom real existierenden Kapitalismus begriffen werden. Das Rentengefüge gerät vor allem zusammen mit der langfristig zunehmenden Arbeitslosigkeit und mit dem zunehmenden Druck auf die Löhne an seine Grenzen – nicht weil es an produktiven Kräften in der Wirtschaft mangelt!
Schließlich wächst die deutsche beziehungsweise europäische Wirtschaft ziemlich kontinuierlich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Problem ist nicht der „Bedarf“ (Seidel) am „Produktionsfaktor“ Mensch (oder sollte ich gleich sagen: „Humankapital“?) das wohl im Inland eingesetzt (wie wäre es mit „verwertet“?) werden soll, das Problem ist die kontinuierlich zunehmende soziale Schieflage, die fast auf der ganzen Welt um sich greift. Diese gilt es intelligent und mit neuen Ideen (zum Beispiel alterndem Geld) zu lösen, wenn es denn wirklich um die Sicherung der sozialen Systeme gehen sollte.
2. Um Toleranz, Akzeptanz, um ein Interesse am Anderen, am Neuen, am Verlassen der eigenen geistigen Provinz erreichen zu können, sollte das andere, das Fremde vor allem als eine Chance, ja vielleicht sogar als Glücksfall, begriffen werden – schließlich sieht man im Fremden immer auch einen Aspekt der eigenen Kultur und der eigenen Person. Wer neue Möglichkeiten für die eigene Kultur und (noch) fremde Kulturen durch einen befruchtenden Austausch erreichen möchte, sollte darauf setzen die Menschen für die neuen Möglichkeiten und Chancen zu gewinnen. Kollektivistisch instumentalisierte (Sach-)Zwänge – auch wenn versucht werden sollte, diese über das Bildungssystem zu kanalisieren – sind am Ende nur die Kehrseite der Fremdenfeindlichkeit, die diese selber benötigt um ihre Existenz zu rechtfertigen.
MATTHIAS KLIMPEL, Frankfurt/Main
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen