: Sozialdemokraten außer Verfassung
■ Kandidat Björn Engholm beschwört auf dem Sonderparteitag die Regierungsfähigkeit der SPD
Bonn (afp/dpa/taz) – Der SPD-Vorsitzende Björn Engholm hat auf dem Sonderparteitag die Sozialdemokraten aufgerufen, Regierungsfähigkeit zu demonstrieren. „Diese Partei will und sie wird dieses Land so schnell wie möglich regieren und dieses Land in eine bessere Zukunft führen“, verkündete Engholm gestern den 438 Delegierten in Bonn. Einer großen Koalition erteilte der SPD-Chef eine klare Absage. Engholm und seine Stellvertreterin Herta Däubler-Gmelin appellierten an die Delegierten, einer Grundgesetzänderung zum Asylrecht zuzustimmen, die das Individualrecht erhalten solle. Einmütig verabschiedete der Parteitag eine Entschließung gegen Rechtsextremismus und Gewalt.
Angesichts einer klaren Parlamentsmehrheit sei eine große Koalition die falsche Antwort auf die Lage im Land, sagte Engholm. „Die SPD ist nicht der Ochse, der den Karren der anderen aus dem Dreck zieht.“ Die Koalition habe der Bevölkerung die Wahrheit verschwiegen und damit das Vertrauen verspielt. Es gebe in Deutschland keinen Staatsnotstand, „sondern einen ausgemachten Regierungsnotstand. Und den wollen wir beseitigen.“ „Jedes ,Weiter so‘, wie es von dieser Bundesregierung immer noch betrieben wird, treibt diese Republik immer weiter ins Elend.“ Es sei daher Zeit für eine Reformpolitik mit sozialer Gerechtigkeit sowie wirtschaftlicher und ökologischer Erneuerung. „Wer sollte diese Reformbewegung anführen, wenn nicht die Sozialdemokraten?“ fragte Engholm.
Das Ringen um eine Asylrechtsänderung gereiche der SPD zur Ehre, unterstrich der schleswig-holsteinische Regierungschef. Der Kurswechsel der SPD sei nicht auf den Druck der Straße hin erfolgt. „Wer auf das Volk hört, ist noch lange kein Populist.“ Die Politik müsse auf geänderte Verhältnisse neue Antworten geben. Zum Thema Zuwanderung gehöre für die SPD nicht nur Artikel 16 des Grundgesetzes, sondern ein Paket von Antworten. Der Individualanspruch auf Asyl stehe für die Sozialdemokraten nicht zur Disposition, ebensowenig wie der Rechtsweg.
Der stellvertretende Parteichef Wolfgang Thierse leitete mit der Forderung nach kurzfristigen Maßnahmen zum Aufbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern die wirtschaftspolitische Debatte ein. Den Delegierten liegt heute ein Sofortprogramm zur Verabschiedung vor. Es sieht unter anderem die Reform der Unternehmensbesteuerung vor.
Thierse zeichnete ein düsteres Bild der Lage in Ostdeutschland. Diese sei gekennzeichnet durch bislang über 40 Prozent verlorengegangene Arbeitsplätze und eine zunehmende Entindustrialisierung. Nach realistischen Schätzungen hätten seit Ende 1989 mindestens eine Million Ostdeutsche ihre Heimat in Richtung Westen verlassen, gegenwärtig seien es noch mindestens 20.000 pro Monat. Zudem arbeiteten 500.000 Pendler aus dem Osten im Westen.
Insbesondere kritisierte Thierse die „passive“ Sanierung der Treuhandanstalt. Sie saniere im wesentlichen durch Personalabbau, Produktionsstillegungen, Ausgliederungen sowie Einsparungen bei Forschung und Entwicklung. Der Osten Deutschlands dürfe nicht zu einer industriellen Brache verkommen, mahnte der SPD-Vize. Tagesthema Seite 3
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