: Sowjetische All-Visionen
„Wieso hocke ich eigentlich noch immer hier rum? Ich hätte mich doch direkt auf die Venus begeben und dort als Gütekontrolleur auf einer der obstverarbeitenden Stationen anheuern sollen. Oder, wenn ich schon unbedingt meinen Beruf beibehalten wollte, hätte ich auch die Roboter zum Nüssepflücken und Fischfang reparieren können. Es hieß, daß es auf der Venus auch einige Geschädigte geben soll, von Geburt an unheilbar Kranke, die zum Gänsehüten angestellt waren. Das Leben auf der Venus wurde einem als Himmel auf Erden angepriesen. Zartblaue Wiesen, winzige Tümpel mit glasklarem Wasser und riesige ineinanderverzweigte Bäume.“
Diese Passage ist einem sowjetischen Science-fiction-Roman der Autorin Larionova entnommen und Teil einer gigantischen Kolonialidylle, an deren fiktiver Konstruktion fast alle sowjetischen SF-Autoren beteiligt sind: Die Galaxis als Rohstoffreservoir, Planeten als riesige Versuchslaboratorien oder als Jagdgründe, der Mond als Sanatorium, der Mars vollgepackt mit Industrieanlagen, die von der Erde, dem intellektuellen Zentrum, aus ferngesteuert werden.
Der wichtigste Markstein der realen und fiktiven sowjetischen Weltraumfahrt wurde 1957 gesetzt. Der „Sputnik -Schock“ zerstörte nicht nur US-amerikanische All -Machtsträume, sondern aktivierte die sowjetischen All -Visionen. Im gleichen Jahr erschien Efremovs Roman Andromedanebel, der für die sowjetische Sience-fiction -Literatur ganz neue Maßstäbe setzte: Es handelte sich um den detaillierten Entwurf einer kommunistischen Zukunftsgesellschaft.
Seitdem bemühen sich immer mehr SF-Autoren (und auch ein paar wenige Autorinnen), diese utopische Vision weiter auszubauen und immer deutlicher zu umreißen - fast so, als ob die Autoren in ihrer Begeisterung alle an einem einzigen riesigen Roman schrieben. Dabei entstanden in einer einzigartigen Mischung utopischer und konventioneller Vorstellungen über Mensch und Gesellschaft einige Standards, die meist eingehalten werden. Abweichler wie die auch im Westen bekannten Strugackijs werden als „technikfeindlich“ oder „flügellahme Phantasten“ beschimpft. Die Institution des „Weltrats“ ist solch ein Muß. Zwar ist ideologisch korrekt der Staat „abgestorben“, mit ihm aber offenbar auch einige Emanzipationsideen: der Weltrat besteht meist ganz politbüromäßig aus alten Männern.
Für die Frauen der Zukunft wird es sowieso nicht besonders angenehm. Die Marsfahrerin Marina etwa ist Bordärztin, Gärtnerin, Chemikerin und dann „war sie auch für die Haushaltsführung zuständig! Die Männer hatten nie sehr gern Küchendienst gemacht, und Marina hatte sie von dieser für sie lästigen Bürde völlig befreit.“ Wie schön für die Männer, daß dereinst ihre Wünsche mit den Emanzipationszielen der Frauen zusammenfallen werden. Und was die US-Konkurrenz im Weltraum angeht: die Autoren scheinen nichts gegen eine amerikanische Beteiligung unter sowjetischer Führung zu haben, zumal die Ziele die gleichen sein dürften.
Ingrid Oswald
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