: Sowjet–Frauen: Statt Ingenieurin bezahlte Hausfrau
■ In der UdSSR–Zeitung Sozialistitscheskaja Industrija machen ein Redakteur und eine Leserbrief–Schreiberin die Frauen in den Ingenieur–Berufen für den Rückstand sowjetischer Technik verantwortlich / Als Alternative wird bezahlte Hausarbeit angeboten
Aus Moskau Alice Meyer
Die Sowjets haben eine einfache und umfassende Erklärung für ihr Nachhinken gegenüber dem Westen gefunden. Für einen gewissen Jewgehl Timochow liegt die Schuld am „Verfall des schöpferischen Potentials“ der sowjetischen Ingenieurkader in der „stürmischen Feminisierung der Konstruktionsbüros sowie der Forschungs– und Entwicklungsinstitute...“ So steht es jedenfalls in seinem Artikel vom 23. Juni 1987 in der Zeitung Sozialistitscheskaja Industrija. Wer nun erwartet, daß die Redaktionsstuben der Zeitung mit Protestbriefen der weiblichen technischen Intelligenz der UdSSR überschwemmt worden wäre, sah sich getäuscht. Das Blatt setzte sogar noch einen drauf. Eine Frau - ihr Name ist Redaktionsgeheimnis - pflichtete in der Ausgabe vom 20. September 1987 dem Apologeten des Patriarchats voll bei und leitete ihren langen, zweispaltigen Artikel mit folgenden Worten ein: „Wenn es mir, einer Vertreterin des schwachen Geschlechts, auch nicht leicht fällt, so muß ich doch den Ansichten Jewgeni Timochows beipflichten und eingestehen: jawohl, die Frau hat eine weit geringere Neigung zu schöpferischer Arbeit, und der Leistungskoeffizient des weiblichen Ingenieurs ist um vieles geringer als beim Manne. Selbstverständlich - nicht bei allen Männern ist das schöpferische Potential hoch und nicht alle Frauen sind schlechte Ingenieure, aber das sind Einzelfälle, die in Rechnung zu stellen nicht lohnt.“ Die „Überbesetzung“ der Konstruktionsbüros und technischen Abteilungen der Betriebe mit weiblichem Personal stelle eines der größten sozialen Probleme der heutigen Sowjetgesellschaft überhaupt dar, fährt die Verfasserin vor. Darüber bewahre man Stillschweigen, gehe insgeheim aber schon daran, Abhilfe zu schaffen. Im Interesse einer „besseren Zukunft“ müßten die weiblichen Ingenieure freiwillig „Opfer bringen“ und „demütig aus dem Weg gehen“. Die heutigen Belastungen des Alltagslebens überstiegen die Kraft der sowjetischen Frau. Sei sie eine gute Werktätige, so gleichzeitig eine schlechte Mutter und Ehefrau, und umgekehrt: Als gute Mutter und Frau verkörpere sie in der materiellen Produktion dann „fast eine Null“. Um aber ein guter Ingenieur zu sein, müsse man/frau ständig an die Arbeit denken - in der Arbeits– und Freizeit. Und warum erreichen in allen möglichen Berufssparten, darunter auch reinen Frauenberufen, ausschließlich Männer die „Hö hen der Meisterschaft“? Weil auf den Schultern der Männer eben nicht die Last der täglichen Daseinsversorgung und Daseinsbewältigung ruhe. Den Zeitungslesern wird nun ein Grundprinzip der sozialistischen Gesellschaft ins Gedächtnis gerufen: „Jeder nach seinen Fähigkeiten“. Die Gleichberechtigung aber sei schuld daran, daß sich die Grenzen der Fähigkeiten, mit welchen Männer und Frauen von der Natur ausgestattet seien, verwischten. Jeder solle das tun, was er gut könne. Die Briefschreiberin begreift ihren Beitrag als patriotische Schützenhilfe für die Sowjetunion: „Den talentierten Ingenieuren ist die Möglichkeit zu verschaffen, Japan und Amerika einzuholen und zu überholen, und ihnen sind dafür 500, ja 1.000 Rubel im Monat zu zahlen (monatliches Durchschnittseinkommen zur Zeit 200 Rubel, d.Red.). Die geistige Arbeit wird derzeit unterbewertet und deshalb gehen Mädchen auf die technischen Hochschulen und nicht Jungen.“ Frauen sollten besser als Ökonomen, Buchhalter und überall dort arbeiten, wo Geduld, Aufmerksamkeit und „Gewissenhaftigkeit in der Ausführung“ verlangt werden - „eben das, was uns von Natur aus kennzeichnet“. Was aber das Wichtigste ist: Hausarbeit und Kindererziehung müßten in der Sowjetunion endlich als gesellschaftlich nützliche Arbeit anerkannt und entsprechend bezahlt werden. „Es ist eine Schande, eine Frau mit drei, vier Kindern an der Hand zur Arbeit anzuhalten. Sie hat ohnehin eine Schinderei am Hals.“ Aber alles müsse getan werden, um der Frau die Wahl zu lassen, wohin sie geht: „In die Familie oder in einen anderen Betrieb“.
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