Sondertribunal Libanon: Hariri-Mord sorgt für neue Spannungen
Der Chefankläger des Hariri-Tribunals übergibt seine Anklageschrift. Alle nehmen an, dass Hisbollah für die Tat veranwtortlich gemacht wird. In Beirut brodelt die Gerüchteküche.
BEIRUT taz | Nervosität liegt in der Luft. Wenige Stunden, nachdem der Chefankläger des Sondertribunals für den Libanon (STL), Daniel Bellmare, die Anklageschrift an den Untersuchungsrichter Daniel Fransen weitergeleitet hatte, machten in Beirut besorgniserregende Gerüchte die Runde. Bewaffnete Kämpfer der Hisbollah sollen sich auf den Straßen befinden.
Viele Schulen schickten daraufhin die Kinder aus Angst vor bewaffneten Auseinandersetzungen nach Hause. Agenturmeldungen zufolge hatten sich einige Dutzend Hisbollah-Anhänger versammelt, woraufhin die Armee einige Straßen absperrte. Der Vorfall zeigt, wie angespannt die Lage ist.
Untersuchungsrichter Fransen wird anhand des eingereichten Materials in den nächsten Wochen entscheiden, ob und gegen wen Anklage wegen des Mordes an dem ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik al-Hariri und 22 weiteren Personen im Februar 2005 erhoben wird. Einzelheiten der Anklage sind bis jetzt nicht an die Öffentlichkeit gedrungen.
Dennoch verhalten sich die politischen Kontrahenten im Libanon seit Monaten so, als wäre schon alles entschieden. Hisbollah ist überzeugt, dass das Sondertribunal einige ihrer hochrangigen Mitglieder im Visier hat. Die schiitische Partei betrachtet die Arbeit der internationalen Ermittler als eine "westlich-israelische Verschwörung", die die Hisbollah entwaffnen und den Widerstand gegen Israel schwächen soll.
Sie spricht dem Tribunal jegliche Legitimation ab und bemüht sich nach Kräften, die Kooperation zwischen Den Haag und dem Libanon zu beenden. Dieses Ziel bestimmt ihre innenpolitische Strategie und war offenbar der Auslöser für den Rücktritt ihrer Minister und der Kabinettsmitglieder der mit ihr verbündeten christlichen Patriotischen Bewegung von Exgeneral Michel Aoun.
Für die Allianz des 14. März um den amtierenden Ministerpräsidenten Saad al-Hariri scheint die Anklageschrift mit möglichen Verdächtigen aus den Reihen der Hisbollah zu brisant zu werden. Einerseits zählt die Aufklärung des Mordes an Rafik al-Hariri zu ihren Prioritäten. Andererseits ist sie mit den politischen Konsequenzen überfordert.
Außerdem hat Saad al-Hariri in den vergangenen Monaten keine souveräne Figur abgegeben. Seine Entschuldigung gegenüber Syrien - zunächst war das Nachbarland für den Mord verantwortlich gemacht worden - hat viele Anhänger des 14. März vor den Kopf gestoßen. Und viele hätten es vorgezogen, wenn er auf den anhaltenden Druck der Hisbollah mit seinem Rücktritt reagiert hätte.
Politisches Vakuum
Der Libanon durchlebt wieder einmal ein politisches Vakuum. Staatspräsident Michel Suleiman hat die Gespräche zur Bildung einer neuen Regierung für eine Woche ausgesetzt. Die Hisbollah-Allianz hat kategorisch ausgeschlossen, dass sie sich mit einer erneuten Nominierung von Ministerpräsident Saad al-Hariri einverstanden erklären wird. Die Allianz des 14. März hingegen hält an Saad al-Hariri als Favoriten fest. Derweil kam aus Damaskus nach einem Treffen von Vertretern aus Syrien, Qatar und der Türkei ein Signal, die syrisch-saudischen Bemühungen um Stabilität im Libanon zu reaktivieren.
Das Einzige, was im Zedernstaat noch äußerst lebendig ist, ist die mediale Auseinandersetzung zwischen beiden Lagern. Der libanesische Fernsehkanal new tv strahlte in den vergangenen Tagen Ausschnitte einiger Gespräche aus, die Saad al-Hariri mit Vertretern des Sondertribunals geführt haben soll. Darin kritisiert er auch namhafte sunnitische Persönlichkeiten aus seinem Lager - eine politische Peinlichkeit in einer prekären Zeit.
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