Sonderparteitag der SPD: Vorwärts und schnell vergessen
85 Prozent für Franz Müntefering, gar 95 Prozent für Frank-Walter Steinmeier: Die SPD macht ihre neue Doppelspitze offiziell. Aber ist die überhaupt für Wahlschlachten geeignet?
Familienfeiern können in Katastrophen enden. Gerade wenn alle wollen, dass es ganz harmonisch wird, bricht sich das Verdrängte manchmal mit Macht Bahn. Der SPD-Sonderparteitag war eine Art Familienfeier. Aber eine ohne Unfall. Und ohne Kurt Beck, der keine Lust hatte, bei der Krönungsmesse der Putschisten für die Fotografen zu lächeln.
Es gab ein Bild, das diesen Tag zusammenfasste; eine Szene, die zeigte, was die SPD sein will: Frank-Walter Steinmeier hatte gerade eineinhalb Stunden lang geredet. Er hatte sich angestrengt, er schwitzte. Nun stand er etwas ratlos im Scheinwerferlicht, während ihm 480 Delegierte minutenlang applaudierten. Gerhard Schröder hätte in einer solchen Situation die Hände emporgeworfen, das Kinn nach vorne gereckt, als Sieger posiert. Er hätte ein Bild geschaffen, direkt, unzweifelhaft und aufdringlich.
Steinmeier hingegen verzichtet auf Siegerposen. Er lächelt, fast verlegen, und geht, fast unsicher, auf die erste Reihe im Saal zu. Er schüttelt erst einigen Gewerkschaftsvorsitzenden, dann Helmut Schmidt die Hände. Schmidt, 89 Jahre alt, hat unbewegt alle Lobpreisungen über sich ergehen lassen. Als Steinmeier kommt, steht er auf, das einzige Mal. Eine knappe Szene, nur ein paar Sekunden. Aber ein Bild fürs sozialdemokratische Familienalbum: Der Held von gestern, die Hoffnung für morgen.
Wie groß der Harmoniewunsch, wie heftig die Sehnsucht der SPD nach Versöhnung mit sich selbst ist, zeigt der Umgang mit Peer Steinbrück. Niemanden feiert der Parteitag so spontan wie ihn. Er wird als Retter umjubelt, als Verkörperung sozialdemokratischer Verantwortungsethik gelobt. Ausgerechnet Steinbrück, der vielen Genossen doch als Inbegriff des Arroganten und Kühlen gilt.
Es ist ein angenehmer Parteitag. Keine Showeffekte, kein Firlefanz. Die neue Führung marschiert nicht in den Saal ein. Sie mischt sich unter die Delegierten und ist um viertel nach elf einfach da. Auch das ist eine Botschaft: Die SPD konzentriert sich in harten Zeiten auf das Wesentliche. Und demonstriert, einigermaßen unangestrengt, Einigkeit.
Niemand wird vergessen. Müntefering erwähnt in seiner Rede sogar Ottmar Schreiner, den Parteilinken, der die Agenda 2010 noch immer bekämpft und der als Einziger im Vorstand gegen ihn als neuen Chef stimmte. Der Antrag der Jusos, die Bahnprivatisierung ganz zu kippen, wird natürlich abgelehnt. Aber sehr höflich, mit ganz knapper Mehrheit.
Andrea Nahles hält die erste Rede des Parteitags. Das soll zeigen, dass die Parteilinke mitentscheidet. Wo doch die neue Führungstroika, Steinmeier, Müntefering und Steinbrück, als rechts gilt. Niemand soll gedemütigt werden. Nur Münteferings und Steinmeiers Dankesworte an Beck klingen etwas pflichtschuldig. Der Exvorsitzende ist daheim in Rheinland-Pfalz geblieben und besucht ein Seniorenfreizeitzentrum.
Die SPD zeigt auf diesem Parteitag in perfekter Dramaturgie, wie ihre neue Machtarchitektur aussieht. Im Zentrum steht Steinmeier, der mit mehr als 95 Prozent zum Kanzlerkandidaten gekürt wird. Müntefering bekommt als Putschist nur 85 Prozent. So richtig überraschend ist es aber nicht, dass Delegierte aus Rheinland-Pfalz etwas kühl auf ihren neuen Chef schauen.
Müntefering redet wie immer, lässig, knapp, manchmal salopp. "Ich bitte euch um euer Vertrauen, meines habt ihr", ruft er kokett in den Saal. Was er sagt, ist bekannt. Der übliche Polit-Rap über Verantwortungsethik, die Tugend des Durchhaltens, 150 Jahre Parteigeschichte. Wichtig ist nicht diese Rede, entscheidend ist ihr Rahmen. Am Anfang versichert Müntefering, dass Steinmeiers Rede so bewegend und überzeugend war, dass eigentlich alles gesagt ist.
Am Ende verkündet er Steinmeiers Wahlergebnis: 95 Prozent. Die Delegierten jubeln - über Steinmeiers Ergebnis, nicht über Münteferings Rede. Der neue SPD-Vorsitzende verzichtet auf den Applaus für sich. Er demonstriert, dass er ganz und gar der zweite Mann ist, einer, der dient. Diese Rolle spielt Müntefering glänzend. Vielleicht sogar zu glänzend für eine Nummer zwei.
Der Wille zur Einigkeit ist echt, der Ausblick auf die Wahl 2009 wirkt disziplinierend. Wird also alles gut für die SPD? Fraglich ist, wie sich Steinmeier als Kandidat inszenieren wird. In seiner Rede verteidigt er den Atomausstieg, lehnt Studiengebühren ab, lobt die Agenda, bei der "nur Details falsch" gewesen seien, verteidigt Kohlekraftwerke, beschwört die Vision der zweiten politischen Phase der Globalisierung und attackiert die Marktradikalen.
Doch das Kämpferische, Laute wirkt bei ihm wie ein Anzug, der ihm nicht steht. Sympathisch und echt wirkt er, wenn er mit seiner Rolle als Wahlkämpfer fremdelt, wenn ihn Applaus verlegen scheinen lässt und er Siegerposen meidet. Wenn er hingegen über "die Lehman Brothers dieser Welt" schimpft, klingt er wie ein Schröder-Double.
Alles für Steinmeier, ist die Devise der SPD. Doch für welchen Steinmeier eigentlich? Den bemüht hemdsärmeligen Wahlkämpfer oder den Staatsmann? Beides wird kaum gehen.
Am Ende steht der Kanzlerkandidat auf der Bühne, umringt von einem Bergmannschor, der "Mit uns zieht die neue Zeit" schmettert. Ein fast hundert Jahre altes Arbeiterlied. Müntefering singt inbrünstig mit, Steinmeier klammert sich an seinen Zettel und blinzelt mit den Augen. Er hat es geschafft. Aber sein Spielfeld ist das hier nicht.
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