■ Sommerneologismen und verwandte Spekulationen: Ganztägig scheinende Dauersonne
Die Sonne gibt seit Wochen ihr Bestes, der Asphalt wirft Blasen, der Absatz von isotonischen Getränken, Mineralwässern und Bier steigt ins Unermeßliche: Zustände, wie wir Mitteleuropäer sie seit Jahrhunderten, ja, seit Jahrzehnten nicht mehr miterleben mußten, konnten noch durften.
Auch die letzten Bürger, zumal hierzulande, dürften schließlich gemerkt haben: Der Sommer ist da, daer geht's nimmer. Wahrlich. Viele Menschen greifen deshalb mittlerweile auch zu regelrecht neuartigen Ausdrucks- und Artikulationsformen, sozusagen zu brühwarmen Sommerneologismen, um diese funkelnagelneue, stupend moderne Wetterlage sprachlich zu bewältigen: „Mööönsch, eine Bullenhitze ist das!“ und „Meiomei, eine Wahnsinnshitze heute wieder!“, hört man jetzt immer öfter bereits morgens beim Bäcker die Rede gehen. Überraschend schnell durchsetzen konnte sich auch die Wendung: „Was eine Affenhitze!“, sowie die wurmfortsätzige Argumentation: „Es könnte mal wieder regnen, Regen wäre jetzt gut.“
Die Singularität dieser strukturell innovativen Klimasituation führt außer im täglichen kommunikativen Austausch der Menschen desgleichen unter „Wissenschaftlern“ zu Überlegungen spezifisch avantgardistischer, der Brillanz des gerade auf Hochtouren laufenden Sommers angemessener Art und Kohärenz. „Weinbau im Schwarzwald, der Wetterbericht wird überflüssig... Was alles sich ändert, wenn dieser Sommer nie enden würde“, offenbarte uns neulich die top of the Stand meteorologischer und anthropologischer Forschung arbeitende Bild-Zeitung. Taufrische Reflexionen ebenda besagten: Die Bereiche „Sex: Mehr Hormone, also auch mehr Lust“, „Lebensart: Die Innenministerien führen den Minirock als Pflichtbekleidung für Polizistinnen ein“ und „Autos: Die Zahl der Cabrios verzehnfacht sich (jetzt noch 105.000)“ würden tiefgreifende Änderungen erfahren, würden sich praktisch paradigmatischen Einschnitten ausgesetzt sehen; indes, was Bild vergaß, schon heute Dramatisches geschieht – mitten unter uns und unser aller Leben betreffend. Ein paar wenige Beispiele:
Wohnen: Wir reißen unsere Dächer ab, damit die ganztägig scheinende Sonne ganztägig in jeden Winkel jedes Zimmers einfallen und unsere Gemüter aufhellen kann.
Segelboote: Die Zahl der Yachten verdreizehnfacht sich in den nächsten 31 Jahren bis 1999 um das Fünffache (jetzt noch 105.000).
Lebensgefühl: Sibirisch heiter, viele kleine, wasserfarbene Getränke. Ab 7.45 Uhr Siesta.
Sport: Eigentlich unnötig. Man schwitzt schon genug. Positiver Nebeneffekt des Schwitzens: Das Schwitzen regt die Schweißdrüsen an – und gerade Schwitzen kühlt den Körper.
Sprache: Immer öfter verwenden wir Ausdrücke wie „Wärme“, „Sonne“, „Hitze“, meist in Verbindung mit Begriffen aus der Sauna, stimmt gar nicht: aus der Fauna („Affenhitze“). Auch dehnt sich das neugewonnene Sprachbewußtsein auf sämtliche Jahreszeiten aus. Infolgedessen verändert sich unsere Zerebralstruktur gewaltig. Ausmaße sind noch gar nicht abzusehen, geschweige denn abzuschätzen. Andere Wörter wiederum werden ganz von der Bildfläche verschwinden, zum Beispiel das schöne Lexem „Winter“; wieder andere – „Regencape“ etwa oder „Hallenbad“ – sind längst weg vom Fenster („ausgestorben“). Und wer weiß, ob wir uns im Dezember noch werden unterhalten können – außer über den gerade heranrückenden mächtigen Schub an „Affen-“, „Bullen-“ und ganz gewöhnlicher Dauersommersonnenhitze... Jürgen Roth
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen