: Software wie frische Brötchen
Die Moskauer Waren- und Rohstoffbörse wurde Ende der 80er als geniale Spinnerei von einer Handvoll Jungwissenschaftler gegründet ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Als Ende der achtziger Jahre in der damals noch real existierenden Sowjetunion das Gesetz über die Kooperativen verabschiedet wurde, hatte eine Handvoll Moskauer JungwissenschaftlerInnen um die 30 ihr Hochschuldasein satt. Nächtelang hatten sie sich, allen voran die Wirtschaftsdozentin Irina Hakamada und ihr Kollege Konstantin Borowoj, in ihren Wohnküchen ausgemalt, wie der Übergang zu einer neuen Gesellschaft aussehen könnte. Langsam lösten sich bereits die wirtschaftlichen Verflechtungen der alten Planwirtschaft. Doch wie sollten die Unternehmen und Kolchosen in der Übergangsphase miteinander kooperieren?
Die Gruppe kam auf eine genial einfache Idee: Sie begann, systematisch Informationen über alles zu speichern, was in Rußland erzeugt wurde. Gegen eine bescheidene Gebühr stellte sie diese Daten alten und neuen Unternehmen, die Rohstoffe, Produktionsmittel, Ersatzteile oder Kunden suchten, zur Verfügung. 1991 arbeitete bereits eine stolze Anzahl Kooperativen, Aktiengesellschaften und Großkolchosen zusammen, und im Herbst des Jahres gründeten über 100 von ihnen die Moskauer „Waren- und Rohstoffbörse“.
Das alles ging nicht ohne Hochstapelei ab: Schon bevor die Börse überhaupt bestand, mieteten die jungen Leute Räume im „Polytechnischen Museum“ und gaben sie neuen Klienten gegenüber als ihr Büro aus. Irina Hakamada putzte dort nach Feierabend und servierte den Gästen Brötchen. „Leider geht es den Leuten mit einer traditionellen Mentalität bei uns weniger darum, eine Sache gut zu machen. Sie möchten vor allem eine Arbeit, die nach Prestige aussieht“, meint sie rückblickend. Damals bemitleideten ihre bisherigen WissenschaftlerkollegInnen die elegante und zielstrebige junge Frau. Aus Angst, ausgelacht zu werden, wagte ihr Sohn in der Schule nicht zu erzählen, was seine Mutter beruflich trieb. Kooperativen galten im postsozialistischen Rußland als Spinnerei.
Heute zählt die russische Öffentlichkeit Irina Hakamada und Konstantin Borowoj zu den reichsten Leuten des Landes, ein Image, gegen das sich die beiden vehement wehren. „Es entspricht nicht der Idee einer Börse, daß sie selbst Gewinne macht. Sie ist eine Plattform, die Tausenden von Organisationen die Möglichkeit verschafft, maximalen Gewinn zu erzielen. Ich gehöre zu den Managern der mächtigsten Gesellschaften und stärksten wirtschaftlichen Instrumente. Wenn ich darüber zum Dollar-Millionär geworden wäre, könnte man mich als Dieb bezeichnen“, sagte Borowoj in einem Interview. Und weiter: „Ich arbeite anders. Ich verändere die Welt. Verstehen Sie?“
Ein Nebenerwerbszweig der Gruppe wurde bald schon die Entwicklung von Computerprogrammen für das Management der neuen russischen Wirtschaft. „Wir buken Software wie frische Brötchen“, erinnert sich Irina Hakamada. 1992 spielten sich etwa 40 Prozent der Transaktionen des russischen Marktes an der Waren- und Rohstoffbörse ab, heute dürften es weniger sein. Sie hat Filialen und Konkurrenten bekommen, und schon längst residiert sie nicht mehr nur in den Hallen des „Polytechnischen Museums“, sondern im eigenen postmodernen Gebäude. Dort wurden Ende 1993 über 100 hochtechnologische Arbeitsplätze fertig, die sie heute an Makler vermietet – zugegebenermaßen mit Gewinn, vorerst mit etwa einer halben Million Dollar pro Jahr. Ansonsten handelt die Mutter der russischen Börsen inzwischen kaum mehr mit Waren- und Rohstoffen, sondern, im Zuge der Privatisierung, mit Wertpapieren, nicht zuletzt mit Staatsobligationen. Die einstigen Freunde Hakamada und Borowoj wollen politischen Einfluß noch direkter ausüben. Sie haben die Börse verlassen und kämpfen in getrennten politischen Parteien um Duma-Sitze. Für den Wahlkampf reicht ihr persönliches Kapital immerhin.
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