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Archiv-Artikel

So viele Therapien wie Heiler

Die Naturheilkunde steht längst nicht mehr für das, was ihre Gründer im 19. Jahrhundert im Sinn hatten. Wie es dazu kam, erzählt Uwe Heyll spannend und anschaulich

Praxisschilder lesen sich mitunter wie absurde Sammelsurien: Chinesische Medizin, Naturheilkunde, Bioresonanztherapie, Homöopathie, Allgemeine Medizin. Der moderne Dr. med. hat im Angebot, was gefragt ist. Wie es zu dieser einträchtigen Vielfalt kam und wieso heute „Naturheilkunde“ für das Gegenteil dessen steht, was ihre Gründer darunter verstanden– das erzählt Uwe Heyll in seinem spannenden und ungemein informativen Buch „Wasser, Fasten, Luft und Licht“.

Es fing alles mit einem 12-jährigen Bauernjungen an: Im Jahre 1811 beobachtete der kleine Vincenz Prießnitz eines Tages ein Reh dabei, wie es sein verwundetes Bein in frischem Quellwasser badete. Täglich kam das Reh wieder, bis es völlig geheilt war. Als der Junge später einmal selbst verletzte wurde, erinnerte er sich an die Begebenheit und badete seine Wunde ebenfalls in klarem Wasser – mit Erfolg.

Prießnitz baute mit den Jahren eine Heilanstalt auf und wurde zum Begründer der Naturheilkunde. Er fand Anhänger und Nachahmer, aber auch Widersacher. So gab es in einem Nachbardorf einen Mann namens Johannes Schroth, der schon aus Opposition alles anders machte: Statt Wasser floss bei ihm der Wein in Strömen, statt üppiger Kost gab es harte Brötchen. Und auch Schroth wurde zu einem der Väter der Naturheilkunde. Man ahnt es schon: Mit jedem weiteren Heiler kam auch eine neue Therapie hinzu.

Uwe Heyll behält trotzdem den Überblick. Kein Wunder, denn der Arzt leitete an der Universität Düsseldorf ein Projekt zur Geschichte der Naturheilkunde. So ist sein neues Buch mit der Souveränität eines Kenners geschrieben, der sein Wissen aus Primärquellen schöpft und aus dem Wust an Daten, Ereignissen und Namen die Stränge der Geschichte herausarbeitet.

Etwa dass sich die Naturheilkundler in den ersten Jahrzehnten zumindest über ihre Grundsätze einig waren: 1. Die Natur ist als Schöpfung Gottes vollkommen. Wenn die Menschheit zur Natur zurückfindet, wird sie nicht nur gesunden, sondern auch in Frieden und Glück leben. Heilend wirken demnach nur Faktoren, die die Natur bereitstellt – neben Wasser wurden dies nach und nach Ernährung, Bewegung, Massage, Luft und Licht. 2. Arzneien, auch homöopathische, sind überflüssig und schädlich. 3. Da Bildung nur den natürlichen Instinkt verbaut, sollen Laien praktizieren. Tatsächlich zeichnete sich der prototypische Naturheilkundler nicht durch seine Ausbildung, sondern durch seine eigene Krankengeschichte, inklusive seiner Heilung, aus.

Anschaulich beschreibt Heyll auch, warum die Naturheilbewegung ursprünglich zu keiner Massenbewegung wurde. Das lag nicht, wie oft vermutet, an den Widerständen oder gar Erfolgen der wissenschaftlichen Medizin, die im 19. Jahrhundert oft genug selber Schiffbruch erlitt. Vielmehr scheiterte die Utopie an den eigenen Ansprüchen: an der Frage, was eigentlich „natürlich“ ist, an therapeutischen Rückschlägen – und der Unmöglichkeit, die Grundannahmen zu belegen. Ein wissenschaftlicher Wirknachweis war auch gar nicht angestrebt, denn die Wahrheit sollte ja unmittelbar ersichtlich sein.

Ein weiterer Grund für das Scheitern, den Heyll nicht erwähnt, drängt sich zumindest dem Biologen auf: Die Prämisse einer friedlichen und gesunden Natur ist falsch. Jedes Lebewesen hat unablässig gegen Konkurrenten, Parasiten, Fressfeinde und Unbilden des Wetters zu kämpfen – und verliert meist.

Das Aufkommen der „Biologischen Medizin“ rettete schließlich die Naturheilkunde – und besiegelte gleichzeitig ihr Schicksal: Die neue Lehre entwickelte zwar einzelne Aspekte der alten Lehre weiter, brach aber mit ihren Dogmen: Sie setzte auf approbierte Ärzte, ließ Arzneimittel zu und öffnete sich anderen, nichtwissenschaftlichen Heilmethoden sowie technischen Neuerungen. Heute leben die ursprünglichen Ideen der Naturheilkunde eher in anderen Bereichen weiter: in der Rehabilitationsmedizin sowie im „Volkswissen“ – von der Schulmedizin gutgeheißen wie die Vollwerternährung oder wissenschaftlich abgelehnt wie die Schlacken, die uns seit Prießnitzs Zeiten vergiften.

CHRISTIAN WEYMAYR

Uwe Heyll: „Wasser, Fasten, Luft und Licht. Die Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland“. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2006, 310 Seiten, 29,90 Euro