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So viel Kritik muss sein: Sophie Lahusen über „Momo“ von den StraßentaubenVerrauchte Zeit

Von drei Leinwänden gleichzeitig spricht der Mann zu uns. Er erinnert an den herzlosen Big Brother aus George Orwells „1984“. „Sie können noch heute anfangen, wenn sie nur wollen“, erklärt der „Graue Herr“ den Zuschauer*innen mit einem unsympathisch souveränen Lächeln. Er zieht an seiner eher spießigen als lässigen E-Zigarette und verspricht: Wer anfängt, Zeit zu sparen, beim Freundetreffen, beim Nachdenken, beim Essen, ja, dem gehöre die Welt.

„Spart Zeit und optimiert euch selbst“, mit dieser bitteren Zusammenfassung des ersten Monologs werden die Zuschauer*innen ins anderthalbstündige Stück unter der Leitung von Canan Venzky hineingezogen. „Momo“, das ist die berühmte Geschichte von Michael Ende über ein junges Mädchen und ihre naiv unbeschwerten Freunde, die ganz ungewollt zur akuten Bedrohung für die „Grauen Männer“ werden, jene emotionsleeren Zeit-Vampire, die uns in unheimlicher Weise daran erinnern, dass ein Kapitalist ebenso an unserer Zeit wie an unserem Geld interessiert sein kann, weil: „Time is Money.“ Wie ein kalter Schleier liegen die Anfangsworte des „Grauen Herrn“ über dem gesamten Stück und schaffen eine Spannung, die fast an einen Krimi erinnert. Getragen wird sie vor allem von Maciej Tyrakowski, der den manipulativen Zeiträuber im Unternehmensberater-Look mit eindrücklicher Präsenz darstellt. Momo, gespielt von Amelie Maresté, liefert als harmoniebedürftige und kindlich-naive Figur den Gegenpol zu dem Zeit-Hai und versprüht damit einen Hauch von Märchen, mit einer klaren Aufteilung von Gut und Böse.

Diese Aufteilung von den mächtigen „Grauen Herren“ gegen den eher schutzlosen Rest passiert nicht nur auf narrativer Ebene: auch technisch dominiert Maciej Tyrakowski seine Kolleg*innen, seine Präsenz scheint selbst an der Bühne zu kleben, wenn er nicht zu sehen ist.

Neben den engagierten Schau­spieler*innen des Laien-Kollektivs „Straßentauben“ machen raffinierte Filmsequenzen und subtiles Sounddesign von Pablo Schröder aus dem Stück anregende 90 Minuten. „Momo“ beweist einmal mehr, dass auch eine fast 50 Jahre alte Geschichte von aktueller politischer Relevanz sein kann: Es geht um die Ökonomisierung der Zeit. Beispielsweise, wenn der treue „Gigi Geschichtenerzähler“ seine Freundin Momo gegen eine Barbiepuppen-Managerin eintauscht, die ihn im Sekundentakt daran erinnert, dass er keine Zeit für private Gespräche mit Momo hat.

Alles, was sie dieser Freundschaft abgewinnen kann, ist die Idee, sie zu vermarkten: Momo, die arme Waise, die sich allein und vor allem ohne Zeit durch das Leben kämpft – eine kommerzialisierte Opferdarstellung.

Momo will dagegen zurückfinden zu den Momenten, in denen Zeit keine Währung war. In der sie und ihre Freunde Zeit zum Reden, Zuhören und vielleicht auch nur zum Schweigen hatten. Anders gesagt: Sie wünscht sich Zeit für all das, was sich nicht kaufen oder verkaufen lässt.

Nächste Termine: 18., 22. und 24. 1., jeweils 20 Uhr; 19. und 26.1, jeweils 18 Uhr; Theatersaal Uni Bremen, Bibliotheksstraße 3, Eintritt: 0,50–11,– € (frei wählbar)

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