So bekommen Sufis einen klaren Kopf

Nicht nur Derwische sind Sufis, sondern auch ganz normale Norddeutsche. Die Lehren des islamischen Ordens seien mit der europäischen Lebensweise besonders vereinbar, sagen sie. Eine der größten deutschen Gemeinden liegt in Hamburg

Es gibt keine strengen Regeln. Jeder ist selbst dafür verantwortlich, wie er den „Weg“ auslegtDie Gemeinde ist bisher wenig in der Öffentlichkeit aufgetreten. Das soll sich ändern

von YASEMIN ERGIN

Eine besondere Nähe zu Religion hatte Frau Anders schon immer. Sie ist in einer bayrisch-katholischen Familie aufgewachsen, sie war mit einem evangelischen Pastor verheiratet – und heute heißt Frau Anders Fatima Gertraud. Für den neuen Vornamen hat sie sich nach ihrem Übertritt zum Islam entschieden. Und Sufismus nennt man die Strömung, der sie angehört. Geübte Kreuzworträtsellöser werden da vielleicht aufmerken, weil für „Sufi“ immer nur ein Wort mit acht Buchstaben gesucht wird: „Derwisch“ – der Mönch mit Fes und Rock, der sich wild um sich selbst dreht, um sich in Ekstase zu versetzen. Doch so ein Sufi ist Fatima Gertraud Anders nicht. Ruhig, sachlich, sehr offen und dabei freundlich lächelnd gibt die 48-jährige Augenarzthelferin Auskunft zu ihrem Glauben und bemüht sich, so treffend und präzise wie möglich zu sein: Sie sei mit dem, was die Kirche ihr bot, nie ganz zufrieden gewesen, erklärt sie: „Wenn es einen Gott gibt, dann muss ich doch mehr spüren“, habe sie oft gedacht. Doch über den ersten Kontakt zu einer Sufi-Gruppe 1981 in Hamburg sagt sie: „Es zündete sofort.“

Sie und ihr Ehemann Henry Anders – der den Namenszusatz Abdel Karim trägt – sind Mitglied von Tariqa Burhaniya, ein im Sudan entstandener Sufi-Orden, dessen Ursprünge bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen und dessen Lehre Anfang der 80er auch im Westen Anhänger fand. Die Europa-Zentrale des Ordens befindet sich heute in Norddeutschland: Sufis vom ganzen Kontinent treffen sich mindestens einmal jährlich im Haus Schnede, prachtvoll am Rand der Lüneburger Heide gelegen.

Für Henry Anders kam aber nicht dort, sondern vor 25 Jahren während des Studiums in Hamburg der Stein Richtung Sufismus ins Rollen. Der 56-jährige Fotostylist, der gerne von Zufällen und schicksalhaften Begegnungen spricht, begegnete Scheich Sala-Aid, Professor aus Kairo, damals Gastdozent an der Hamburger Universität. Sala-Aid unterwies neben seinen Psychologievorlesungen Interessierte in der Lehre des Burhaniya-Ordens. Das Charisma des Professors habe schnell von sich reden gemacht, erzählt Anders, der damals Kunst studierte. „Es lag eine Art Zauber in der Luft, Sala-Aid schien gekommen, um uns ‚abzuholen‘. Er hatte Antworten auf alle Fragen, und die Dinge ergaben plötzlich einen Sinn.“ Innerhalb eines Jahres kamen die ersten Anhänger zusammen, parallel bildeten sich Gruppen in vielen anderen deutschen Städten.

Anders erzählt das mit sanfter Stimme und unüberhörbar norddeutschem Dialekt. Der von dem Orden vertretene Weg sei in die europäische Lebensweise gut integrierbar, setzt er fort: Keine Frau müsse Kopftuch tragen, und auch sonst gebe es keine strengen Regeln. Denn jeder sei selbst dafür verantwortlich, wie er den „Weg“ für sich auslege: Entscheidungen, wie der Verzicht auf Alkohol oder das Fasten im Ramadan, kämen „von innen“ und nicht durch den Druck der Gruppe. In erster Linie gehe es um die Liebe zu Gott und die Fähigkeit, dadurch ein guter Mensch zu werden. Die Anhänger entscheiden individuell, ob sie ihre Überzeugung publik machen oder nicht, die meisten bekennen sich jedoch offen zu ihrem Glauben und haben sich arabische Vornamen gewählt.

Die Burhaniya-Gemeinde in Hamburg, zu der auch die Anders gehören, ist mit rund 80 Mitgliedern eine der größten in Deutschland. Versammlungsort ist ein geräumiges Zentrum im Hamburger Karoviertel – zwei Etagen in einem modernen Gewerbekomplex, Agenturen und Büros sitzen in den Nachbarräumen. Von der in den Anfangsjahren so ausschlaggebenden spirituellen Sinnsuche ist hier auf den ersten Blick nicht mehr viel zu spüren, stattdessen trifft man auf normale deutsche Familien, für die der Sufismus zum ganz gewöhnlichen Alltag gehört.

Wie auch in der Moschee üblich, werden die Schuhe am Eingang des Zentrums ausgezogen, die Atmosphäre hat etwas Familiäres. Heller Teppichboden liegt aus, es gibt separate Kinderzimmer, Gebetsräume und auch eine große Küche, in der manchmal gemeinsam gekocht wird. Matratzenreihen an den Wänden dienen als Sitzgelegenheiten. Fast überall toben Kinder herum, Teenager stehen in Grüppchen und schwatzen, bis sich gegen acht Uhr das Treiben sortiert.

Es ist Zeit für die Hadra, das Gesangs- und Gebetsritual der Sufis, bei dem gemeinsam das so genannte Zikr, die Anrufung Gottes, ausgeübt wird. Der Gesang selbst ist den Männern vorbehalten – Männer und Frauen sind während des Rituals getrennt. Die Männer versammeln sich in einem Gebetsraum, der mit einem Vorhang vom Frauenbereich abgeschirmt ist; schummrig leuchtet in ihrer Mitte eine Lampe. Dann stimmen sie den mehrstimmigen Gesang an, der allmählich immer intensiver wird. Fast eine Stunde geht das so, und auch auf den unbeteiligten Zuhörer wirken die Gesänge faszinierend – plötzlich scheint sie greifbar, die viel beschworene spirituelle Energie des Sufismus.

Die Männer singen mit geschlossenen Augen, klatschen in die Hände, wippen im Takt mit, anfangs zaghaft, dann immer schneller, immer rhythmischer. Die Frauen hinter dem Vorhang nehmen auf ihre Art an der Hadra teil. Ein Tuch über die Haare gestreift, sitzen sie nebeneinander und lauschen hoch konzentriert. Einige summen mit, andere scheinen zu meditieren. Die Hadra ist für die Sufis eine äußerst emotionale Angelegenheit, erklärt Henry Anders. Man nehme die zumeist von der Liebe zu Gott handelnden Inhalte in sich auf „wie ein Getränk“ und fühle sich dabei dem Paradies ein Stück näher. Der viel bemühte Begriff Sufi-Ekstase, Stichwort Derwisch, sei jedoch ein Klischee. Ein solcher Effekt sei nicht gewollt, es gebe sogar Übungen dagegen. Ziel sei, mit klarem Kopf zu sich und Gott zu finden.

Auf die Frage, warum die sich als tolerant und weltoffen verstehende Gemeinde ihre Frauen von einem so wichtigen Teil ihres Rituals ausschließe, bekommt man eine interessante Erklärung. Die Trennung entspreche einem natürlichen Unterschied, erläutert Anders. Die intensiven Zikr-Übungen dienten der inneren „Öffnung,“ die bei Männern mit viel Kraftaufwand verbunden sei. Frauen dagegen haben nach den Sufi-Lehren von Natur aus das „empfangende Wesen“, die „leichtere Seele“ und könnten ihr Herz deshalb besser öffnen.

Die Trennung zwischen Mann und Frau, die in den Ursprungsländern des Sufismus schon lange praktiziert wird, wurde erst vor acht Jahren eingeführt. Doch nur wenige Frauen seien deshalb ausgetreten, erinnert sich Fatima Gertraud Anders. Auch Sonja Lampe stört sich daran nicht. Die Hadra habe eine ausgleichende Wirkung auf sie, gerade in der von den Frauen praktizierten Weise. „Alles andere würde mich eher von mir wegbringen“, sagt die 23-Jährige, die erst seit kurzem zu den Versammlungen kommt.

Auch mit dem Nachwuchs gibt es bei der Tariqa keine Probleme. Während der Hadra wild umher rennende und tanzende Kinder stören niemanden, im Gegenteil, die Kleinen sollen so auf natürliche Weise in die Gemeinschaft hineinwachsen. Dass das klappt, bestätigt Konstantin Mustafa Singer, ein 17-jähriger Gymnasiast, der seit Geburt Muslim ist. Rebellion und Widerstand gegen den von den Eltern vorgelebten Weg gebe es kaum, meint der auffallend selbstsichere junge Mann. Konstantin Mustafa selbst hat sich mit 13 entschieden, den Glauben auch zu praktizieren, und sagt heute, er sei „hundertprozentig“ dabei. Nicht Druck der Eltern sei dafür verantwortlich, betont er. Die Liebe zu Gott und die Freude, die er bei den Gebeten empfinde, machten ihn zu einem zufriedenen Menschen. Darin liege auch das Geheimnis für den Fortbestand der Burhaniya, vermutet Konstantin: Nicht Pflicht oder Gewohnheit bänden die Jugendlichen an die Tariqa, sondern allein der „Weg des Herzens.“

Was man hier in der Gruppe erlebe, sei Welten von dem negativen Islambild entfernt, das in den Medien und in der westlichen Gesellschaft so vorherrschend sei, sagt Henry Anders. Die Gemeinde habe sich da lange rausgehalten und sei, findet er, bisher viel zu wenig in der Öffentlichkeit aufgetreten. Das soll sich nun ändern: Mit einer Veranstaltungsreihe im CCH will die Burhaniya Hamburg Ende Mai eine andere Sichtweise auf den Islam präsentieren. Titel: „Glaube – Liebe – Einheit“.