Sloterdijks „Das Schelling-Projekt“: Eine Bejahung der Körperlichkeit
Peter Sloterdijk schreibt über die weibliche Sexualität. Wer die 68er-Bewegung miterlebt hat oder verstehen will, sollte seinen Roman lesen.
Das Letzte, was ich von dem ebenso erfolgreichen wie umstrittenen Philosophen Peter Sloterdijk gelesen hatte, war ein Zeitungsartikel, in dem er sich breit zur aktuellen Flüchtlingsfrage äußerte, die Kanzlerin in ihrer offenherzigen Politik kritisierte und dabei eine beklemmende Annäherung an das Dumpfbackentum vorführte, eine behäbige, spießige Verteidigung eigener Guteingerichtetheit vornahm. Endlos in sich selbst kreisende Sätze, gebremster Schaum. Wieder einmal, wie so oft, hatte dieser Autor ohne die Kraft zur Zäsur und zum Verstummen geschrieben.
Jetzt allerdings muss ich ihm freilich Abbitte tun, jedenfalls in Hinsicht auf seinen soeben erschienenen Roman „Das Schelling-Projekt“. Dieses Buch hat es verdient, von all jenen gelesen zu werden, die die Studentenbewegung der Achtundsechziger sowie die Jahre danach miterlebt haben oder als Nachgeborene verstehen wollen. Dank Sloterdijk wird deutlich, dass die Bestrebungen jener Zeit von Intuitionen gewaltiger historischer Dimension geprägt waren.
Er hatte die Kritische Theorie Adornos rezipiert, war dann aber wie viele andere auch nach Indien gegangen, um bei Baghwan in Poona für drei Monate zentrale Erfahrungen zu machen. Die dort erworbene Aufmerksamkeit, Gegenwärtigkeit und Bejahung der Körperlichkeit und sexuellen, in der Promiskuität ausgelebten Triebe sollte fortan sein Schreiben bestimmen und zu einer Philosophie führen, die verschiedene Stränge des neueren abendländischen Denkens zusammenführen konnte, um eine antidepressive, nicht länger vom Todesgedanken beherrschte, sondern geburtliche Lebenspraxis zu propagieren. Es war an der Zeit, wieder an Nietzsches Entdeckung des Vorrangs der Leiblichkeit vor dem Geist anzuknüpfen.
Das weibliche Empfinden ist nuancierter und reicher
Der Roman kennt keinen einheitlichen Erzähler mehr. Fünf befreundete Leute, dazu der Autor selbst, schicken sich gegenseitig Mails, in denen sie sich auf ein Projekt beziehen, das sie gemeinsam bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingereicht haben. Ihr Vorhaben ist kühn: Sie wollen eine Untersuchung der im Lauf der Evolutionsgeschichte zur Reife gelangenden weiblichen Sexualität unter ständiger Rücksicht auf die Naturphilosophie des Deutschen Idealismus vornehmen.
Peter Sloterdijk: „Das Schelling-Projekt“. Suhrkamp, Berlin 2016, 251 Seiten, 24,95 Euro
Ihre These dabei ist, dass das weibliche Empfinden beim Beischlaf nuancierter und reicher ist als dasjenige des Mannes. Sie wollen beschreiben, wie im Orgasmus der Frau das materielle Universum die Augen aufschlägt. Das stolze Projekt wird von den Bürokraten in Bonn rasch als unwissenschaftlich abgelehnt, aber umso entspannter kann das Grüppchen sein Thema nun in den aufeinander antwortenden Mails gedanklich umkreisen.
Bedeutend an diesem Buch ist der Rückgriff auf Schelling. Die sechs Korrespondenten wollen allesamt Schellingianer sein. Sloterdijk lädt zu einer erneuten Entdeckung von dessen Denken ein, das der Fichteschen These vom sich selbst setzenden Ich eine materielle Geschichte vorschaltet.
Schelling will einen Schritt weitergehen als Fichte und eine Naturgrundlage von Ich und Sein konzipieren. Er wird vom Autor als ein Philosoph begriffen, der sich eindringlich für die Sexualorgane seiner jungen Frau interessiert und die Natur als eine „geistnahe Gebärkraft“ auffasst. In diesem Sinn kann er jetzt zum Ahnherrn dieser vom Wissenschaftsbetrieb abgelehnten Projektsteller werden, von denen zumindest Sloterdijk eine Zeitlang Sannyasin war und die sämtlich dem Rausch der Organe und der sinnlichen Ekstase den lange verwehrten Platz einräumen wollen.
Der Verfasser der „Kritik der zynischen Vernunft“ greift hiermit Intuitionen der Frühromantiker auf, die näher zu verfolgen wären; er zitiert Ibn Arabi und die islamische Mystik, die ganz ähnlich Göttliches mit kreatürlicher Lust verbindet. Nicolaus Sombart, 2008 verstorben, grüßt mit einer Mail aus dem Jenseits und erinnert an seine eigene literarische Verherrlichung des Koitus.
Ein vergnüglicher Roman
Sloterdijk bezeichnet den von ihm hierbei mit großer Ausdauer erzeugten Stil selbstbewusst als einen, der wie Perlen aus einem Champagnerglas aufsteigt. Dieser tatsächlich prickelnde Stil ist übrigens bei allen Mailpartnern derselbe; der O-Ton Sloterdijks – das ließe sich kritisch einwenden – wird folglich nicht wirklich konterkariert, das Dialogische nicht wirklich entfaltet. Hier ein Beispiel für derlei aufsteigende Bläschen: „Ist Dir bewusst, dass Du beim Liebesspiel nicht durchwegs dieselbe Frau bleibst? Das eine Mal wimmerst Du auf dem Höhepunkt wie ein schuldbewusstes Kind, das eine Bestrafung auf sich nimmt. Das andere Mal stöhnst Du als sterbender Krieger, wenn er mit dem Gott der Schlachten eins wird.“
Dieser Roman gehört wohl zum Lockersten, Vergnüglichsten, was Sloterdijk je geschrieben hat. Gerade dass nur von einem angedachten Projekt ohne nähere Ausarbeitung und bloßen Ansätzen erzählt wird, stiftet Leichtigkeit. Hier ist der Autor über sich selbst hinaus. In Zukunft müsste er das hier angesteuerte Dialogische weiterentwickeln, von durchgeführter Theoretisierung, dem Drang zur Weitwinkel-Perspektive und der Errichtung argumentativer Gebäude Abstand nehmen. Vielleicht findet er ja auch noch zu Lakonie, die für ihn erst eigentlich rettend wäre.
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