Skizzendes Kosmos

AVANTGARDE Am Freitag kam die Tonmalerei „Treatise“ von Cornelius Cardew zur Aufführung

Ein zwölfköpfiges Wiener Ensemble unter der Leitung des Dirigenten Luc Döbereiner hatte in den gut gefüllten Roten Salon geladen, zu einer Aufführung ausgewählter Seiten von ­„Treatise“, dem Schlüsselwerk des Komponisten Cornelius Cardew.

Wir nahmen mittig in der dritten Reihe Platz und mussten nicht lange warten, bis Ana de Almeida, die Flötistin des kleinen Orchesters, aus Cardews Handbuch zu seiner Komposition las: Naiv“, „unschuldig“ solle der Interpret sein. Eine musikalische Erziehung habe er idealerweise hinter sich gelassen, und doch sei er Musiker.

Ganz schön viel verlangt, oder? Aber völlig zu Recht, denn die Resultate waren mannigfaltig: Jäh fuhr elektronisches Schnattern in kammermusikalische Celloflächen, hakte sich das E-Piano, (es swingte, perlte und polterte) beim Schlagzeug unter, das weit mehr durfte, als dem Ganzen das Gerüst zu ­geben.

Ein Saiteninstrument, Marke Eigenbau, stach ins Auge: das Hängetom eines Schlagzeugs als Korpus, über das Fell vier Saiten Industriedraht gespannt; der Hals erinnerte an Malewitschs „Rotes Kreuz“. Die Musik zog weite Bögen und schlug schnelle Haken; sie geriet dabei pfiffig und freudvoll.

Mit Döbereiner und de Almeida waren auf der Bühne: der Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen (er bediente das Piano), Anna Barfuss, Heinrich Deisl, Elli Ferriol, Leander Gussmann, Anita Hafner, Katharina Hausladen, Nina Kerschbaumer, Christiane Kues, Andrea Legiehn und Karl Salzmann.

Dass nicht alle von ihnen als Musiker bekannt sind, muss nichts Schlechtes sein; ebenso, dass mehrere Ensemblemitglieder ihren Hintergrund eher in den bildenden Künsten haben. Denn diese Komposition ist eine lautmalerische im Wortsinn.

An „Treatise“ (bekannt von Wittgensteins „Tractatus“), hat der Stockhausen-Assistent ­Cardew von 1963 bis 1967 gearbeitet; es besteht aus 193 querformatigen Blättern mit grafischen Notationen. An ihrem ­unteren Seitenrand befinden sich je zweimal fünf Notenzeilen; diese sind nicht beschrieben. Darüber verschlungene ­Linien, Symbole, Grafiken und abstrakte Formen, die interpretiert werden wollen, um die Leerstellen zu füllen. Manche dieser Seiten erinnern an Schaltkreise, andere an kosmologische Skizzen.

Keine „Treatise“-Aufführung ist wie die andere, Aufnahmen gibt es etliche. Musiker wie Sonic Youth haben „Treatise“ interpretiert. 2009 spielten Keith Rowe, Mitbegründer der Improvisationsgruppe AMM, zu der auch Cardew gehörte, und der australische Multiinstrumentalist Oren Ambarchi „Treatise“-Variationen ein. Die älteste Version entstand 1967 in Prag mit dem QUaXEnsemble unter der Leitung des tschechischen Komponisten Petr Kotik.

Cornelius Cardew (Anfang Mai dieses Jahres war sein 80. Geburtstag) begann sich in den 70er Jahren zunehmend von seinen experimentellen Arbeiten, von John Cage und Karlheinz Stockhausen abzugrenzen. Cardew entwickelte sich zum dezidierten Maoisten, 1974 ver­öffentlichte er ein Buch mit dem unmissverständlichen Titel „Stockhausen Serves Impe­rialism“. Wenige Jahre, und Punk würde bei ihm nicht besser wegkommen. Ein Kapitel für sich?

John Tilbury, britischer Pia­nist, Improvisationsmusiker, Weggefährte und Autor der Biografie „Cornelius Cardew: A Life Unfinished“ (2008), meint, man könne nicht die Aspekte des Komponisten, die einem unbequem erscheinen, ignorieren: „Er wurde zum Revolu­tionär; er war immer ein Poet.“ Cardew starb vor 35 Jahren bei einem nicht aufgeklärten Autounfall.

Das Konzert im Roten Salon klang übrigens mit einer Zugabe aus. Das Ensemble intonierte a cappella „Band on the Run“ von Paul McCartneys Wings. Darin heißt es: „In the town they’re sear­ching for us everywhere / But we never will be found.“

So gingen wir in die Berliner Nacht. Ortlos, aber keinesfalls unbehaust. Und schon gar nicht haltlos. Robert Mießner