■ Skandinavien auf dem Weg in die Europäische Union: Nordisches Dominospiel
Da waren es schon 15. Die EU ist ab 1. Januar schlagartig ein rundes Sechstel an Fläche größer als bislang, ihr Gewicht ist deutlich nach Norden verschoben, und sie hat erstmals eine gemeinsame Grenze mit Rußland. Alles scheint nach Plan zu verlaufen. Drei nordische Regierungen wollten so schnell wie möglich in die vermeintliche Unionswärme hineinschlüpfen, auch wenn noch so viele Bauern, Fischer und außenpolitische Prinzipien geopfert werden müssen. Und die zunächst so offenbar widerspenstigen Bevölkerungen lassen sich eine nach der anderen letztendlich breitklopfen, auch wenn man sie mit Drohungen und Erpressungen zu ihrem angeblichen Glück zwingen muß.
Warum muß man das eigentlich? Das Szenario der Ja-Seite scheint doch so überzeugend: Ein vereinter Norden könnte in Brüssel ja durchaus einiges ändern: den Bürokraten mehr Öffentlichkeit aufzwingen, eine Demokratisierung durchdrücken, die schwache Fraktion der progressiven UmweltschützerInnen stärken. Doch hinter den Ja-Mehrheiten der SchwedInnen und FinnInnen stehen ganz andere Überlegungen. Dort hatte man es in den letzten Jahrzehnten ganz gemütlich in den bequemen Wohlfahrtsstaaten mit eingebauter Fußbodenheizung und einer Politik der Allianzfreiheit zwischen den großen Blöcken. Doch scheint diese Sicherheit Gefühle von Angst und Unsicherheit zu potenzieren. Plötzlich läuft einiges Gewohntes aus dem Ruder. Stichworte: Wirtschaftskrise und Umwälzungen in Osteuropa. Die PolitikerInnen hatten das schnell gemerkt und mit kräftigem Anschub durch die schon lange nach Brüssel schielende Wirtschaft den Kurs Richtung EU eingestellt. Obwohl Europa noch vor drei, vier Jahren ein absolutes Tabuthema gewesen war.
„Kyllä“, ja, lautete zuerst die Antwort der FinnInnen zur EU. So war das auch gedacht, als die EU-StrategInnen der beitrittswilligen Regierungen in den drei nordischen Ländern die zeitliche Abfolge der Volksabstimmung planten. „Ja“ sagten jetzt die SchwedInnen. Und werden nun die NorwegerInnen, die eingefleischtesten NeinsagerInnen, wirklich allein draußen vor bleiben wollen? „Nei“ lautet dort bislang die klare Antwort zur EU. Es wäre alles viel einfacher, wenn die norwegische Wirtschaft auch so im Graben liegen würde wie die Schwedens und Finnlands, seufzte ein Regierungsmitglied kürzlich: Die NorwegerInnen fühlen sich eben allein stark genug und haben keine Angst, bald neben Island, Liechtenstein und der Schweiz die letzten Brüssel-Verweigerer Westeuropas zu sein. Daß vorwiegend Zukunftsangst und Unsicherheit die SkandinavierInnen die vermeintliche EU-Wärme suchen lassen, kann Brüssel nicht unbedingt mit Stolz erfüllen. Abgesehen davon, daß sich innenpolitisch bald viel Frust aufbauen wird, sollten sich die hochgesteckten Erwartungen an die EU nicht einstellen, könnte sich auch in der Union selbst, wo man mehrheitlich den Beitritt Schwedens wünschte, bald Katerstimmung breitmachen: Gerade der Hintergrund für die Ja-Mehrheiten verspricht Brüssel keine bequemen Neumitglieder auf dem Unionsweg über 1996 hinaus, sondern möglicherweise bald eine Verstärkung der „dänischen Bremserfraktion“ – sobald das Erwachen aus tatsächlich unrealistischen Wunschträumen kommt. Reinhard Wolff, Stockholm
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen