: Sitzgelegenheiten
Leerstelle (10): Wurden hier in der Nähe der Saarbrücker Straße vielleicht nicht nur Stühle an die Mauer gestellt? Für eine Antwort gibt es nicht genug zu restaurieren
An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntägig mit den Nebenstellen des Lebens.
Hier tut sich gar nichts. Hier steht eigentlich alles still. Einiges scheint geschehen, gewesen, vorbei. Der Ort atmet mehr Vergangenheit als Zukunft, das steht fest. Zur Ruhe scheint er nicht geeignet, trotz seiner drei als Sitzgelegenheit (mit Vorsicht) brauchbaren Möbel, die den Vordergrund mehr aus- als einladend besetzen. Ausladend nur im einen Wortsinn, für den Gebrauch des anderen sind sie zu spärlich konstruiert, die jeweilige Konstruktion durch sehr lang anhaltenden Gebrauch in jenen Zustand gelangt, der am besten als verschlissen zu bezeichnen wäre.
Drei Herrscher über ein Reich: Sie teilen sich ihr abgelegenes Kondominat mit dem stillen Versprechen, einander in nichts überlegen zu sein. Einer übervorteilt seinen Nächsten nicht, bedrängt nicht den eventuellen Gast, der nur versehentlich ihr Territorium beträte. Vielleicht dass ein Stuhltanz Abwechslung brächte, die Reise nach Jerusalem, hier wäre sie durchaus gefragt.
Der Wunsch nach Reisen wird (für berlinische Verhältnisse) historisch kommentiert vom Vordergrund des Hintergrunds, der Mauer, die historisch korrekt aus einzelnen Betonsegmenten im Hochformat besteht. Dahinter wieder Mauern, dann türmt sich Industrieland in der Vertikalen, wo jedes Teil das andere zu zitieren scheint, bis an den mastartigen eisernen Abzug rechts außen, der wie ein Strohhalm schnorchelnd in den dunstigen Himmel ragt zwischen Schönhauser Allee und Saarbrücker Straße.
Der Beton, an den sich die Möbel beinahe lehnen, verbirgt nur die traurige Wahrheit, dass sich ein Autohändler zwischen den Mauern ausgebreitet hat, und mit stanniolglitzernden Wimpeln für sein nicht florierendes Geschäft mehr geradestehen muss, als dass er dafür werben kann.
Zwar kann die Anlage vom Asphaltboden bis an die aufstrebenden Ziegelbauten ihren zwingburgartigen Charakter nicht verbergen; zu verteidigen ist aber nichts, schon lange nichts mehr. Die Angriffe sind getan, was zu erobern war, ist längst erobert. Zu holen ist außer der Betrachtung (neben Fakten und Erzählung) nichts. Fast nichts. Und fast könnte man der Annahme zuneigen, hier habe jemand in letztem Handgriff die Dreieinigkeit der Stühle arrangiert mit Bedacht und in der Hoffnung, ein Augenmerk lege sich fest.
Kann sein, es ist nichts weiter als ein Bereitsein für die Leute von der Müllabfuhr. Wenn da nicht der Rest von Schrift, die Spritzer auf der Mauer wären. Das Stück Papier oder Papiertaschentuch. Die feuchte Fläche unter den drei mal vier Stuhl- und Bockbeinen. Hier scheint Gewalt geschehen, von Menschenhand auf jeden Fall. Ob Menschen Menschen oder toten Dingen taten, was die Spuren nahe legen, wird jedoch nicht klar.
Unklar bleibt auch der Sinn der Großbuchstaben P und R, der kleinen i und m weiter rechts. Am Ende hat hier einer seinen Stammparkplatz mit Pinselstrichen reklamiert. Allerdings, allerdings können die Kürzel auch gut eine Parole bedeuten, gegen Gewalt oder dafür. Zum Beispiel können die drei in Reihe stehenden und offensichtlich ausrangierten Gegenstände ihre Funktion gehabt haben im Umgang mit der Gewalt.
Dafür würden die Spritzer in Sitzhöhe sprechen; sie hätten ihre dunkle Farbe nicht von Dreck, Schmutzwasser, Mörtel oder Öl, sondern – wer kann es wissen – von Blut. Am Ende waren mehr als drei (Menschen) an drei Möbelstücken befestigt, weil sie nicht mehr stehen konnten. Am Ende ist die unscheinbare Einfahrt Hinrichtungsstätte gewesen bis gestern. Einschusslöcher gibt der Festbeton nicht her, damit auch keine restaurierfähige Sehenswürdigkeit.
Und der weiße Fetzen vorne, ist er doch ein weißes Tuch? Mit dem aufgegeben, mit dem unterhandelt werden sollte? Tränen vom Gesicht zu wischen waren, Blut von wessen Händen? Und die noch nicht trockene Krone der Mauer, in Kopfhöhe? Wenn hier irgendetwas fehlt, dann Zeugen! THOMAS MARTIN