: Sittenwidriger Allgäuer Staatsanwalt
Acht Monate soll nach dem Willen des Kemptener Staatsanwalts ein HIV-Positiver hinter Gitter, weil er mit seiner 16jährigen Freundin in deren vollem Einverständnis ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte ■ Aus Kempten Bernd Siegler
Acht Monate Haft ohne Bewährung forderte Staatsanwalt Nagel vor dem Amtsgericht in Kempten für den 29-jährigen HIV -positiven Franco Pietro G. wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung und unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln. Damit soll zum ersten Mal in der Bundesrepublik ein HIV-Infizierter verurteilt werden, weil er ungeschützten Geschlechtsverkehr mit seiner Freundin in deren vollen Einvernehmen gehabt hat. Für den Staatsanwalt hatte die Einwilligung der damals 16jährigen Gymnasiastin rechtlich keine Gültigkeit, zumal die Tat an sich „sittenwidrig“ sei. Strafverschärfend komme der „vielmalige Geschlechtsverkehr“ hinzu.
Franco G. wurde von zwei mit Handschuhen ausgerüsteten Polizeibeamten in den Gerichtssaal des Amtsgerichts geführt. Seit Anfang 1986 wußte der Mechaniker, dem die Ausweisung nach Italien droht, von seiner Infektion. „Im Zuge anderweitiger Ermittlungen“ hatte ein übereifriger Beamter der Polizeiinspektion Sonthofen Anfang des Jahres den Fall ins Rollen gebracht. Er hatte vom Angeklagten über dessen Infektion erfahren und gewußt, daß G. eine Freundin hatte. „Quasi im Zuge der Gefahrenabwehr“ hatte er dann die Gymnasiastin und ihren Vater zu einem klärenden Gespräch gebeten, dort von dem ungeschützten Verkehr erfahren. Am 8.1.88 erging Haftbefehl wegen fortgesetzter, versuchter gefährlicher Körperverletzung.
Die Vernehmung der Gymnasiastin fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Die gesamte Beweisaufnahme vor Gericht ergab, daß G. seine Freundin vor der Aufnahme intimer Beziehungen von seiner HIV-Infektion informiert hatte. Den Vorschlag von G., doch Kondome zu benutzen, hatte sie abgelehnt und sogar seine Bedenken gegen eine engere Beziehung zwischen ihnen zerstreut.
Da mehrere HIV-Tests bei der 17jährigen negativ waren, hielt Staatsanwalt Nagel lediglich den Versuch einer gefährlichen Körperverletzung für erwiesen - allerdings in zwei Fällen, weil G.'s Beziehung zu der Gymnasiastin durch eine Haftstrafe unterbrochen war. Nagel, der in Kempten in einem weiteren AIDS-Prozeß die Anklage wegen versuchten Totschlags vertritt, versuchte sich in dem Verfahren gegen G. von Anfang an als Hardliner zu profilieren. Schon zuvor hatte er G.'s Freundin lange Zeit die Besuchserlaubnis wegen „Infektionsgefahr“ verweigert. Bei einem Verfahren gegen G. wegen versuchten Diebstahls am 26.1.88 hatte Nagel gar dem Angeklagten eine Totschlagsanklage im Aids-Verfahren angedroht, sollte er die damalige viermonatige Haftstrafe nicht annehmen.
In seinem Plädoyer widersprach Nagel dem Kemptener Landgerichtsarzt Walzl, der als Sachverständiger „die bloße Infizierung nicht als Gesundheitsbeschädigung“ gesehen hatte.
Nach den AIDS-Urteilen der Landgerichte München und Nürnberg sah es Nagel mittlerweile „als herrschende Meinung“ an, daß ungeschützter Geschlechtsverkehr von HIV-Positiven als versuchte gefährliche Körperverletzung zu ahnden wäre. Selbst ein Infektionsrisiko von 1 : 1.000 wäre nicht tolerierbar, zumal „dieser potente Angeklagte nahezu jeden Tag, nahezu jede Woche Verkehr hatte“. Gerade die Bedenken des Angeklagten vor einem ungeschützten Verkehr wären der beste Beweis dafür, daß er die Infektion der Partnerin billigend in Kauf genommen hätte.
Staatsanwalt Nagel sprach der Gymnasiastin die genügende Einsichtsfähigkeit zur Einwilligung in den ungeschützten Verkehr ab. „Sie ist ein dummes, einfältiges, unreifes Mädchen“, das dem Angeklagten „sexuell verfallen“ wäre. Gerade ihre Aussage „über kurz oder lang werden wir alle sterben“ beweise die Unreife. Für Nagel ist die Gymnasiastin der „potentielle Mulitplikationsfaktor“ für AIDS.
Doch auch wenn die Einwilligung wirksam wäre, so Nagel, „bleibt die Tat gleichwohl sittenwidrig“ und damit strafbar, da hier mit dem Leben eines anderen gespielt worden wäre. Er legte dem Angeklagten sogar zur Last, ein mögliches Kind der Freundin gleich mitgefährdet zu haben, da die 17-jährige nur sporadisch die Pille genommen habe.
Natürlich sehe die Rechtslage im Falle der Ehe anders aus, beeilte sich Nagel zu betonen. Dann müßte das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung in der Ehe höher eingeschätzt werden. Das Urteil lag bei Redaktionsschluß noch nicht vor Siehe auch Kommentar Seite 4
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