Singsang in Sibirien

Der Obertongesang Tuwas als Hotspot der internationalen Ethnoszene: Einige Überlegungen zum Film „Genghis Blues“ von Roko und Adrian Belic

von HELMUT HÖGE

Irgendwo in Amerika – in einem etwas heruntergekommenen Wohnviertel – sitzt ein blinder Blues-Sänger inmitten seiner Geräte und Musikstücke. Eines Tages hört er ein sibirisches Lied – von einem Obertonsänger aus Tuwa – im Radio. Wo ist das überhaupt: Tuwa? Und was ist das für ein seltsamer Gesang? Der schwarze Bluessänger namens Paul Pena bemüht sich, all das herauszubekommen. Er lernt in der Folgezeit sogar ein bisschen Tuwanisch und außerdem den Obertongesang. Seine Sehnsucht nach Tuwa wird derweil immer größer. Seine Freunde machen sich schon über ihn lustig: Ach Paul, du mit deiner Tuwa-Macke!, sagen sie. Dennoch nennen sie sich bald alle zusammen „Friends of Tuwa“. Es sind nicht unbedingt Loser, aber Winner erst recht nicht. Und deswegen brauchen sie sehr, sehr lange, bis ihr „Tuwa-Projekt“ steht. Im Kern besteht es darin, dass sie allesamt – als ein Filmteam – nach Tuwa fliegen und Paul Pena dort ein paar Obertonlieder zum Besten gibt, inmitten von einheimischen Sängern, die ebenfalls alle diese Art Gesang beherrschen.

Während ihrer Expeditionsvorbereitung passiert jedoch Folgendes: Überall in der westlichen Welt entdecken Filmemacher, Musiker und Globetrotter Tuwa. Nach dem politisch aufgeladenen Nicaragua-Run, dem menschenrechtlich totgerittenen Tibet und dem bereits völlig verwimwenderten Kuba ist Tuwa plötzlich der neue Hotspot. Tuwa – wo es noch mehr Pferde als Menschen gibt und wo „Yahoo!“ noch nicht triumphiert hat beziehungsweise nicht mehr triumphiert, seitdem die Sowjetmacht kollabierte. Die deutschen Kamerateams der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten kennen bereits jeden Winkel und jedes Tal in Tuwa. Bednarz, Ruge, Riefenstahl und Rimski-Korsakow – alle haben sie schon da gedreht. Da gibt es ferner den verrückten Ami, der sich dort auf die Suche nach dem Grab Dschingis Khans machte – aber nichts als Hanffelder bis an den Horizont fand (auch gut). Dann den Tuwa-Dichter aus Leipzig, der eine Gruppe in der Mongolei arbeitslos gewordener Tuwaner zurück in ihre und seine Heimat begleitete. Dann einen Berliner, der jedes Jahr mit der Videokamera durch Tuwa reist. Den alljährlichen Tuwa-Stand auf der Internationalen Tourismus-Börse. Die zwei Künstlerinnen, die als Trekker dort unterwegs waren. Die Tochter eines Steglitzer Immobilienhändlers, die auf Tuwas kleine Pferde steht, ihr Bruder, der die dortigen Kamele lieber mag und so weiter.

Kein Wunder, dass der „Genghis Blues“, so heißt der Film über die Tuwa-Expedition von Paul Pena, bei der Berlinale erst einmal abgelehnt wurde: Inzwischen haben sie dort bereits eine Art Tuwa-Aversion entwickelt. Zudem ist der Film weniger eine Tuwa- als eine Pena-Expediton. Immer wieder wird gezeigt, wie er in der Tuwa-Hauptstadt – dem Mittelpunkt Asiens – auf dem großen Oberton-Gesangsfestival auftritt. Und sogar einen Preis einheimst. Es ist ein erfrischend dilettantischer Film geworden, der sich nicht scheute, die schönsten Bilder gleich drei-, viermal zu verwenden. Nur der Werbetrailer, der derzeit in den Kinos läuft, ist etwas irreführend: Man sieht vor allem Tuwa-Männer in historischen Kostümen, die auf schnellen Pferden über die Grasebenen sausen. Im wirklichen Film kommt so etwas nur am Rande vor – wie im wirklichen Leben im Übrigen auch.

Dafür ist die Kamera immer dabei, wenn Pauls Tuwa-Freunde ihm ein Ständchen an einem Fluss singen oder wenn sie ihn zu zweit auf die Bühne oder von der Bühne weg begleiten; oder wenn er unterwegs einer Gruppe von Arbeitern ein Tuwa-Lied singt – und die sich darüber sehr freuen. Der Film – und sein Trailer – ist so amerikanisch wie Apple-Pie. Und wir als Antiamerikaner können uns an seiner Machart nicht satt sehen. Außerdem macht es Spaß sich vorzustellen, wie dieser blinde Amerikaner – mit dem guten Gehör eines Musikers und einem Blindenstock ausgerüstet, der wie ein Minensuchgerät aussieht – dieses fremde Land bereist, in sich aufnimmt.

Natürlich gibt es Tuwa inzwischen auch im Internet – zigmal, und in Amsterdam einen Musikladen, der alle möglichen Cassetten und CDs mit Musik aus Tuwa im Angebot hat. Ich bekam von dort neulich eine Aufnahme mit Knastliedern aus Tuwa, die ich für eine SWF-Sibirien-Reportage verwendete. Der Redakteur, der anfangs noch nie etwas von Tuwa gehört hatte, sagte – als ich ihm das fertige Band schickte: „Musste das wirklich sein? Inzwischen wird hier im Sender sogar schon von der Sportredaktion nur noch Tuwa-Musik verwendet!“ Ich tat empört, musste ihm aber insgeheim recht geben: Dieser Tuwa-Trend hat bereits etwas Enervierendes, zumal dort ein Tal wie das andere aussieht – und alle von Bergen umgeben sind. Von denen die Obertonsänger tagaus, tagein ihr Liedgut schmettern.

Aber in Kuba tun sie auch nichts anderes als permanent Musik zu machen, und in Tibet beten sie rund um die Uhr – dalailamisch. Man muss da ja auch gar nicht hinfahren, es reicht, sich diesen merkwürdigen Tuwa-Film im Kino anzuschauen – und sich dabei sein eigenes „Expeditionsprojekt“ auszumalen: Tuwa gehört zu Sibirien. Und Sibirien ist eine einzige riesige weiße Projektionsfläche.

„Genghis Blues“. Regie: Roko und Adrian Belic. USA 1998, 88 Min.