: Simonis wird nachdenklich
Viermal scheitert sie bei der Wahl zur Ministerpräsidentin in Kiel. Jetzt überlegt sie, ob sie sich das noch ein fünftes Mal antut
AUS KIEL ESTHER GEISSLINGER
Zwölf Jahre regierte Heide Simonis in Kiel. Gestern Nachmittag stand sie am Abgrund. Viermal scheiterte sie bei der Wahl zum Amt des Ministerpräsidenten.
Dann hatten alle Fraktionen die Nase voll. Im Ältestenrat des Landtags wurde beschlossen, die Sitzung ohne weitere Abstimmung zu vertagen. Und der Landtagspräsident Martin Kayenburg (CDU) gab den Abgeordneten den guten Rat mit in die Osterpause, die Zeit zum Nachdenken zu nutzen. Heide Simonis hörte auf ihn: Sie will jetzt nachdenken, ob sie noch einmal antritt. Das gab der SPD-Landesvorsitzende Claus Möller bekannt, allerdings erst, nachdem er die Nachricht hinausposaunt hatte, Simonis stehe für einen weiteren Wahlgang überhaupt nicht mehr zur Verfügung. Dies musste er auf Nachfragen dann einschränken: „Heute nicht mehr.“ Ob die SPD aber überhaupt wieder mit Simonis antreten will, steht nach dem Fiasko vom Donnerstag in den Sternen. Ihre Regierung bleibt vorläufig noch im Amt – geschäftsführend.
35 Stimmen hätte Heide Simonis gebraucht, um gewählt zu werden. Nie kam sie auf mehr als 34, genauso viel, wie ihr Gegenkandidat Peter Harry Carstensen erreichte. Ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete von SPD, Grünen oder dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW) enthielt sich bei den geheimen Wahlgängen standhaft der Stimme. Die abweichende Meinung wird in der SPD vermutet. Denn die vier grünen Abgeordneten wollten die Koalition, und die beiden SSW-VertreterInnen haben nach dreiwöchigen Sachberatungen der Duldung einer Minderheitsregierung zugestimmt. Und kein Zornesausbruch von Heide Simonis, keine Beschwörungen aus der Fraktion des Noch-Regierungslagers oder des SSW vermochten die Meinung des Dissidenten zu ändern.
„Das ist der Hyper-GAU von Heide Simonis, der Super-GAU für die SPD“, sagt der FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Lothar Hey sprach vom „schwärzesten Tag in der Geschichte der Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein“. Anke Spoorendonk vom SSW zeigte sich „irritiert und wütend“. Die Abmachungen der letzten Wochen seien ja wohl mehr als „Jux und Dollerei“ gewesen. Das Kieler Modell einer rot-grünen Minderheitsregierung mit Tolerierung durch den SSW scheint am Ende, bevor es begonnen hat. Nach der Wahl hatte Simonis nach dem Strohhalm SSW gegriffen – trotz aller Beteuerungen vorher, eine tolerierte Minderheitsregierung sei eine schlechte Möglichkeit und mit ihr nicht zu machen. Was trieb sie zu dieser Entscheidung? Der Wunsch, mit einer – zwar knappen – Mehrheit sozialdemokratische Politik zu machen, oder doch nur der Wille, auf jeden Fall auf ihrem Sessel zu bleiben?
Ihr Gegenkandidat Peter Harry Carstensen von der CDU dagegen hatte gestern allen Grund zur Freude: Wäre alles gegangen wie erwartet, hätte er eine hübsche Grundsatzrede halten können über wackelige Mehrheitsverhältnisse. Jetzt hat er noch Chancen, Ministerpräsident zu werden. Gesiegt haben Carstensen, seine CDU und die FDP auf jeden Fall. Carstensen hatte mehrfach die große Koalition angeboten, in der die SPD aber nur Juniorpartnerin geworden wäre. Mit Simonis war das nicht zu machen: „Was wird aus mir?“, lautete ihr schier verzweifelter Satz in einer Talkshow. Nun wurde sie auf die denkbar peinlichste Art von ihrer Fraktion abgestraft. Schlimmer kann eine altgediente Ministerpräsidentin nicht zum Abschied gedrängt werden.
Die nächste Landtagssitzung ist, wenn sich die Abgeordneten nicht doch noch anders entscheiden, erst Ende April. Zeit genug für alle Parteien, sich über ihr weiteres Vorgehen Gedanken zu machen. Eine Möglichkeit wären Neuwahlen. Die Chancen der SPD dürften dabei nach den gestrigen Vorgängen deutlich gesunken sein. Oder man einigt sich auf eine große Koalition unter Führung von Peter Harry Carstensen, dem Spitzenmann der Union, der stärksten Partei. Dies wäre dann das sichere Ende der politischen Karriere von Heide Simonis.
Als sie gestern mit Tränen in den Augen und versteinert das Ergebnis auch des vierten Wahlgangs registrierte, hatten selbst politische Gegner Mitleid mit der Ministerpräsidentin: „Es ist unvorstellbar, was der Frau passiert“, sagte der CDU-Abgeordnete Johann Wadepuhl. Simonis sei „eine Ferkelei ersten Ranges“ angetan worden“, wütete SPD-Fraktionschef Hay. „Ich will hier nicht rausgetragen werden“, hatte sie immer wieder auf die Frage geantwortet, wie lange sie den aufreibenden Job noch machen wollte. Und jetzt das: Der Verrat durch einen Parteifreund in geheimer Wahl.