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Sieht leichter aus

■ Innerhalb von Tagen ins Kapitalverbrechen hineingerutscht. Bertrand Taverniers „Der Lockvogel“ ist eine atemberaubende Studie um den „Fall Valerie Subra“

In der vorletzten Szene steht Nathalie mal wieder im Slip da, und den soll sie ausziehen. Nathalie sagt (zu einer Polizistin, die schwanger ist): „Ich bin nicht prüde“, Schnitt. Sie hält sich für aufgeklärt. Sie soll ihr Geständnis unterschreiben, jede Seite einzeln. Sie bekommt einen Füller gereicht und sagt: „Oh, ein Mont Blanc!“ Sie glaubt, es sei sexy, Männern zu schmeicheln, wenn das ins Spiel kommt, was Nathalie als deren Phallussymbole ansieht.

Der radikale Spiegel ihres derangierten Selbstbilds ist die Polizei. Es ist eng in deren Büro (wie Nathalie sich laut wundert), und die Männer, die sie verhören (das heißt erst einmal, zu ihr versuchen durchzudringen), sind anziehend. Ein meisterlicher Dreh von Bertrand Tavernier: Sexy ist das Realitätsprinzip.

Auch sonst ist „Der Lockvogel“ ein ernstes Spiel mit der Wirklichkeit, die um zehn Jahre in die Gegenwart transportierte Geschichte eines Trios, das „im Paris der achtziger Jahre“, wie es im Vorspann heißt, innerhalb von Tagen ins Kapitalverbrechen hineinrutschte. Der Prozeß um den „Fall Valerie Subra“ ist schon Kriminalgeschichte, und die Täter sind im Gefängnis. Taverniers Frau Colo Tavernier O'Hagan war Prozeßbeobachterin; Grundlage des von ihr entworfenen Drehbuchs war die Studie von Morgan Sportes zu diesem Fall. Von der Balance aus Dokument und Fiktion lebt dieser Film, der nicht im geringsten mit dem Verbrechen kokettiert, das er erzählt. Wenn man wieder draußen ist, fühlt sich der Magen an wie ein Stein.

Wenige Filme bringen es zu solcher Brillanz, was die Verkettung von Kamera, Regie und Schnitt betrifft. Trotz des 35-Millimeter-Formats ist „Der Lockvogel“ zu großen Teilen aus der Hand aufgenommen, was in der angehaltenen Einstellung dieses leichte Schwanken hergibt, eine gewisse Unsicherheit des Raums. Der erste Blick in die Zweizimmerwohnung, in der die drei hausen, ist eine Kamerabewegung in Wellenform, die sofort den Grundriß der Wohnung verständlich macht und gleichzeitig – in sanfter Hebung und Senkung bei relativer Bodennähe – die Verkehrsform der Protagonisten vorgibt: ein Sichräkeln in der Horizontale.

Taverniers Tempo (mit der Kamera von Alain Choquart) grenzt an Atemlosigkeit. Erics Weg durch die Stadt, um Nath von der Boutique abzuholen, in der sie arbeitet, ist ein akrobatischer Hindernislauf durch eine Lieferantenszene, vielleicht zwanzig Sekunden – er unterm Walkman, die Zuschauer unter seiner Musik. Gleich danach: Im Streit laufen Eric und Nathalie durch eine der typischen heruntergekommenen Passagen, die Kamera merklich auf menschlichen Beinen vorweg nach Art der Reporter. Daß der Film fast zwei Stunden dauert, spürt man nicht. Seine Klaustrophobie ist fesselnd und drückend zugleich. Die soziale Ortlosigkeit der Figuren konterkarierend, hat die Topologie des Filmes etwas von einem Aquarell; nicht ausführlich, aber unverwechselbar.

Was man an jedem Kriminalstoff so gut explizieren kann: wie der Tausch vom Verbrechen am Pelzkragen gepackt wird und bis zur Kenntlichkeit zerstückelt – das buchstabiert Tavernier durch bis zum Schwindel. „Darf ich diesen haben?“ fragt die kleine Schwester ihre große Schwester Nathalie, und die tupft die Stofftiere nacheinander mit dem Zeigefinger an und sagt: „Du kannst sie alle haben. Den roten, den blauen, den gelben...“. Nathalie kann nicht einmal mehr „Freude schenken“, sie ist schon umgepolt auf Alles oder Nichts. Alles ist der Traum, in Amerika eine Kette von Geschäften zu haben, wofür nach der Vorstellung von Eric, Bruno und Nathalie nicht mehr als ein Startkapital vonnöten wäre (nicht etwa Ausbildung, Know-how, Green Card, etc.). Das Register dieses Kapitals wittern sie in Nathalies Adreßbuch, in dem Anwälte und Ärzte eingetragen sind, die sich gegen dubiose Gegengaben von Lachs bis Lederjacken gern mit jungen Frauen schmücken; vage imaginäre Lifts gegen echte Fickereien. Nichts, das ist, irgendwie nicht anzulanden in der luxuriösen Halbwelt, in die die drei geäugt und zu der sie nicht den Schlüssel haben.

Das ist die Funktion des Lockvogels: Nathalie öffnet die Türen für Eric, den eifersüchtigen Freund, und für Bruno, dessen etwas tumbe (und man möchte lange sagen: ganz sympathische) Nähe Erics Macher-Imago anheizt. Aber die Raubzüge kippen sofort um in rohe Vernichtung. Keiner der drei kommt aus dem physisch kriminellen Milieu. Die Opfer haben vielleicht falsche Haare, aber ein echtes Gesicht. Töten sieht in Hollywood leichter aus, als es dann ist.

Darin liegt eine Pointe von Taverniers Unternehmen: Die jungen Leute werden als Medienfreaks gezeigt, die sich zu Hause die Videos reinschieben. Sehr geschickt wird die Apathie der Männer mit Nathalies Erlebnisdrang und Frustnervosität konfrontiert. Marie Gillain zeigt überzeugend, wie Nathalies nacktes Herumturnen in der Wohnung die Spannung anheizt, die zur Tat führt – und die Tat rekapituliert ihr zynisches Verhältnis zum Versprechen, das ihr Körper darstellt. In den Wohnungen der Opfer dann kehrt sich das Verhältnis von Apathie und Aktivität um: Nathalie starrt auf den Bildschirm oder schottet sich über den Walkman ab, während die Jungen ihrer blutigen Arbeit nachgehen.

Eine Szene spielt in der Videothek, in der Nathalie von einem Film abrät, weil er französisch sei. Gut ist nur, was aus Amerika kommt. Ein riskanter Kommentar auf die französisch-amerikanische Warendiplomatie: Französische Filme, soll uns wohl bedeutet werden, würden den jungen Leuten nicht in der Weise die Köpfe verbiegen. Was in dieser Weise vielleicht nicht ganz falsch ist: nur einer wie Tavernier kann zeigen, wie schrecklich Frankreich wirklich ist. Ulf Erdmann Ziegler

„Der Lockvogel“, Regie: Bertrand Tavernier. Kamera: Alain Choquart, Schnitt: Luce Grunenwaldt. Mit Marie Gillain, Olivier Sitruk und Bruno Putzulu. F, 135 Min.

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