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Sieg mit Zahnspange?

Grand Prix Eurovision 2001, heute in der ARD: Alle Lieder, alle Interpreten, sichere Prognosen. Fazit: Krasse Favoriten? Keine. Fast alle werden auf Englisch singen

von JAN FEDDERSENund THORSTEN PILZ

1. Niederlande. Michelle: Out On My Own („Auf mich allein gestellt“). Die „andere“ Michelle. Keine Brustvergrößerung, keine Vampattitüde. Macht eher auf Mädchen, das, auf sich allein gestellt, gern im Schneidersitz auf der Bühne sitzt. Das Lied erinnert an die irische Band „The Corrs“. Traurig, aber wahr: Eine Sängerin mit Silberblick hat nie die Eurovisionstrophäe geholt.

2. Island. 2 Tricky: Angel („Engel“). Flottes Liedchen zweier Jungs in bester Britpopatmosphäre. Das Land südlich von Grönland beweist einmal mehr, wie sehr es gewillt ist, auf heimatliche Folklore zu verzichten, um beim Rest Europas verstanden zu werden. Der verwegene Plan, auf Isländisch zu singen, wurde verworfen: „Birta“, so hieß der Titel ursprünglich, hätte in Spanien und Portugal an eine dort gängige Küchenschwammmarke erinnert.

3. Bosnien-Herzegowina. Nino Prses: Hano („Hano“). Beginnt als Ballade von der Stange, kommt dann aber noch einigermaßen in Fahrt – und wird orientalisch angehaucht. Der junge Mann, englisch-serbisch gemischt singend, gibt sich modebewusst: mit Sonnenbrille, Schirmmütze und der Modefarbe der Saison – Apricot. Sicher ein Platz in der Mitte Europas.

4. Norwegen. Haldor Laegreid: On My Own (siehe oben). Dreißigjähriger Musicalsänger kreischt die opulenteste Ballade des Abends. Ein bisschen Eric Carmen, eine Spur von Gene Pitney, eine Prise Lionel Ritchie. Der nicht mehr ganz junge Mann gibt sich trendy: Er trägt einen flaumigen Oberlippenbart.

5. Israel. Tal Sundak: Ein davar („Es ist in Ordnung“). Sundak kommt als israelischer Tarkan daher, nicht ganz so vordergründig sexy, aber mit ordentlich viel Schwung in den Hüften. Typische Grand-Prix-Kibbuzhymne. Könnte, weil schlicht, weit vorne landen.

6. Russland. Mumiy Troll: Lady Alpine Blue („Dame mit alpinblauen Augen“). Das ungewöhnlichste Lied des Abends. Die Band aus Wladiwostok gehört in ihrer Heimat zu den Topacts. Ihr Lied ist eine Hymne an eine Sibirierin mit tiefblauen Augen. Womöglich die Nachfolger der Letten von „Brainstorm“. Pop auf der Höhe der Zeit.

7. Schweden. Friends: Listen to your heartbeat („Hör auf deinen Herzschlag“). Zumutung des Abends, aber aufgekratzt. Abba meets Roxette meets Charlotte Nilsson – aber ohne Klasse. Muckefuck statt Kaffee. Wahrscheinlich ist ein Rang in den Top 5.

8. Litauen. Skamp: You Got Style („Du hast Stil“). Nein, auch dieses baltische Land verzichtet auf landestypische Melodienkunde, die Gruppe, der eine Irin als Leadsängerin vorsteht, versucht es mit der guten litauischen Tradition des Funk. Nicht schlecht, nicht gut: Man hofft auf Stimmen aus den Nachbarländern, um nicht ein Jahr aussetzen zu müssen.

9. Lettland. Arnis Mednis: Too much („Zu viel“). Renars Kaupers, wo bist du? Sorgte Lettland in Stockholm für den muntersten Auftritt, steht die baltische Mitte in diesem Jahr für Pop von der Stange. Akkordeon, Reggae – von allem etwas ergibt nichts Gutes. Ein Platz jenseits der Top 20 wahrscheinlich.

10. Kroatien. Vanna: Strune ljubavi („Die Saiten der Liebe“). Gegen neunzehn KonkurrentInnen musste sich die blonde, hochschwangere Sängerin durchsetzen. Nun, als junge Mutter, hält sich ihr Song seit vier Wochen in den kroatischen Hitparaden. Aber kann sie mit einem Lied gewinnen, das verhalten beginnt, dann wie Phillysound klingt und schließlich mit energischem Geigengefiedel endet? Für das obere Tableau dürfte es reichen.

11. Portugal. MTM: Só sei ser feliz assim („Ich weiß nur, dass man so glücklich sein kann“). „Ebony & Ivory“ aus Europas letztem Winkel westlicherseits. Zwei Männer singen wider Rassenwahn und für Völkerverständigung. Das ist eigentlich immer gut, in diesem Fall leider etwas langweilig. Portugal wird – wie der VfL Bochum – absteigen müssen. 2003 gibt’s eine neue Chance.

12. Irland. Gary O’Shaughnessy: Without Your Love („Ohne deine Liebe“). Die frühere Eurovisionssiegerin Linda Martin („Why Me?“) hörte seinen Song und wurde deutlich: „So ein schreckliches Lied hatte mein Land noch nie. Er kann nicht singen, er hat keine Ausstrahlung und schlechte Kleidung mag er offenbar auch.“ Was sie meint, ist: ein Ärgernis. Muss Irland gar zur Strafe ein Jahr aussetzen?

13. Spanien. David Civera: Dile que la quiero („Sag ihr, dass ich sie liebe“). Dieses gut gelaunte Stück bleibt schon deshalb in Erinnerung, weil es zwischen all den Trübsalliedchen heraussticht. Der Sänger hat viel von Ricky Martin und Enrique Iglesias gelernt, und das zeigt er auch. Der Lieblingssong von Dana International („Diva“). Ein vorderer Platz dürfte sicher sein.

14. Frankreich. Natasha St-Pier: Je n’ai que mon âme („Ich habe nur meine Seele“). Die neunzehnjährige Frankokanadierin soll die Tradition von France Gall oder Céline Dion fortsetzen: Das hauchzarteste Chanson des Abends liegt in den Wetten der Grand Prix-Fanklubs unangefochten vorne. Ob es mit diesem Schmachtchanson zum ersten Sieg von La France seit 1977 (Marie Myriam) reicht, ist natürlich offen: Französisch ist den europäischen TV-Zuschauern kaum vertrauter als Türkisch oder Polnisch. Bleibt Madame St-Pier zum Trost wirklich nur die reine Seele?

15. Türkei. Sedat Yüce: Sevgiliye Son („Das Ende des Liebenden“). Der Titel klingt schwer nach Engtanzfete: Melodisch, wenn auch letztendlich etwas verschleppt. Yüce singt mit rauem Timbre Allgemeines vom Leid in der Liebe. Zehn bis zwölf Punkte aus Deutschland sind aber immer drin.

16. Großbritannien. Lindsay D.: No Dream Impossible („Kein Traum ist unmöglich“). Sechzehn Jahre, der Teenager. Sieht aus wie eine Drogensüchtige vom Bahnhof Zoo. Oder wie eine Tochter Marianne Faithfuls. Trägt Zahnspange. Singt mit offenbar kräftiger Lunge. Texter Russ Ballard hat für Hot Chocolate in den Siebzigerjahren „So You Win Again“ verfasst. Das möge ihr Auftrag genug sein. Modern rappender Pop. Könnte gewinnen.

17. Slowenien. Nusa Derenda: Energy („Energie“). Eine prima Nummer für all jene, denen die Britin zu düster war und die lieber eine Hysterikerin sehen: Noch ’ne Uptemponummer, noch ’ne Blondine, wenn auch etwas erkältet im Ausdruck. Wetlook ist zwar modisch nicht mehr der letzte Schrei, aber immer noch ein Hingucker. Ach so, das Lied: Im oberen Mittelfeld ist bestimmt noch ein Plätzchen frei.

18. Polen. Piasek: Too Long („Zu lange“). Klingt wie Animationsmucke im Aerobicstudio: Schnell, schnell, schnell. Der junge Mann lässt bitter die gute polnische Tradition (Edyta Gorniak) der katholischen Erweckungssongs vermissen. Trotzdem: Er stört nicht.

19. Deutschland. Michelle: Wer Liebe lebt („To Live For Love“). Über Michelle wissen wir alles: Schwere Kindheit im Schwarzwald, unglückliche Beziehung mit Matthias R. – allein: Von solchem Kummer weiß man außerhalb des Verbreitungsgebiets der Bild nichts. Wie dem auch sei: Sie will gewinnen. Und das wird sie mit vollem Körpereinsatz, geliftet oder nicht, versuchen. Ihre Chancen? Exzellent.

20. Estland. Tanel Padar & Dave Benton: Everybody („Jeder“). In den britischen Wettbüros gelten sie als sichere Absteiger: Dröge das Arrangement, zu wenig spektakulär, als dass jemand beim TED ausgerechnet für sie telefoniert. Irgendwie Pop: zwei Männer und ein Lied. Nicht einmal die Kleidung taugt. Vergeben, schnell vergessen.

21. Malta. Fabrizio Faniello: Another Summer Night („Noch eine Sommernacht“). Ein Lied, das, wenn auch etwas überheizt, auf der Latinopopwelle mitzuschwimmen versucht. Aber wenn es schon Ricky Martin Light sein muss, dann doch lieber auf Spanisch.

22. Griechenland. Antique: Die For You („Für dich sterben“). Ein sehr tanzbarer Song, vermutlich einer der kommenden Sommerhits auf Kreta. Elena und Nikos, gebürtige Schweden und dort sehr erfolgreich, bilden ein Duo und singen von der schönen Nachtluft an einem Strand: Ihr Heimatland schnitt nie besser denn als Fünftes ab – eine Steigerung scheint möglich.

23. Dänemark. Rollo & King: Never Ever Let You Go („Nie und nimmer lass’ ich dich gehen“). Welch eine Dramaturgie: Als gastgebendes Land vor dreißigtausend Zuschauern im Fußballstadion, per Los als letzter Teilnehmer am Start. Wie im Vorjahr singen zwei Herren – diesmal jünger, aber ähnlich propper. Dazu eine Sängerin als drittes Objekt der Begierde. Der Mundharmonikasong ist hübsch eingängig. En gang til i København?

JAN FEDDERSEN, 43, taz.mag-Redakteur, schwört auf Natasha St-Pier; THORSTEN PILZ, 32, NDR- und taz-Mitarbeiter, drückt für Russland die Daumen. Beide empfänden einen Sieg der Dänen Rollo & King nicht als Überraschung

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