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Archiv-Artikel

Siechtum und Macht

Peter Struck (SPD) und Gregor Gysi (PDS) sind krank. Aber wie schwer? Diese Frage ist bei Politikern nicht nur eine des Mitgefühls – hier entscheiden sich die Schicksale ganzer Parteien und Nationen

VON RALPH BOLLMANN

Die Angst geht um bei SPD und PDS. Wie ist es um die Gesundheit von Peter Struck bestellt? Hatte der Verteidigungsminister wirklich nur eine „Kreislaufschwäche“, wie es offiziell hieß – oder war es vielleicht doch ein Schlaganfall? Und wie steht es um Gregor Gysi: Hatte er tatsächlich bloß „Probleme“ – oder erlitt er einen neuerlichen Herzinfarkt?

Werden solche Fragen zum Politikum, dann ist beleibe nicht nur Mitgefühl im Spiel. Ungewöhnlich offen wird in beiden Fällen debattiert, ob von der Diagnose der Mediziner auch das Schicksal ganzer Parteien und Regierungen abhängt. Muss sogar Schröders bislang verlässlichster Minister krankheitsbedingt aus dem Amt scheiden, so tönen die Auguren, dann ist es um Rot-Grün womöglich endgültig geschehen. Kann Gysi bei der nächsten Bundestagswahl nicht wieder für die PDS antreten, fürchten die meisten Sozialisten, dann ist es um ihre Partei endgültig geschehen.

Die Geschichte kennt genügend Fälle, in denen der Inhalt des ärztlichen Kommuniqués entscheidende Weichen zu stellen vermochte. So glauben nicht wenige Historiker, US-Präsident Franklin D. Roosevelt habe sich wegen seiner angeschlagenen Gesundheit während des letzten Amtsjahrs 1944/45 nicht entschlossen genug den Ansprüchen der Sowjetunion widersetzt. Andere wiederum führen die Entstehung des Kalten Krieges darauf zurück, dass Roosevelt seine weiche Linie nicht zu Ende führen konnte. Er starb einen Monat vor der deutschen Kapitulation an einem Schlaganfall.

Am augenfälligsten geriet der politische Tod im Fall des jugoslawischen Präsidenten Josip Broz Tito, dessen 100-tägiger Todeskampf im Frühjahr 1980 schon eine Vorahnung des Untergangs seines Staates bot. Die Medien berichteten über das Drama mit allen Höhen und Tiefen, die später auch der Zerfall Jugoslawiens haben sollte. So schien sich nach einer Beinamputation der Zustand des 87-Jährigen, der unter starken Durchblutungsstörungen litt, wieder zu bessern. Im Mai starb er dennoch – und hinterließ die Macht einem höchst fragilen Kollektiv, das zehn Jahre später zerbrach.

Vor dem Hintergrund all dieser Erfahrungen wird über die Konstitution von Politikern offener denn je debattiert. In den USA ist höchste körperliche Belastbarkeit schon längst unverzichtbares Merkmal eines Präsidentschaftsbewerbers. Nirgendwo sonst lassen sich Politiker so oft beim Sport filmen, um ihre Fitness zu beweisen. Nirgendwo sonst ist auch das Marathon von den ersten Vorwahlen bis zur endgültigten Entscheidung so aufreibend, dass sich gesundheitliche Schwächen allenfalls mit starkem Medikamentenkonsum vertuschen lassen – wie im Falle des umjubelten Präsidenten John F. Kennedy.

Auch in Deutschland hätten Politiker wie der greise Kanzler Konrad Adenauer oder der vom Krieg schwer gezeichnete SPD-Chef Kurt Schumacher heute kaum noch eine Chance, gewählt oder auch nur nominiert zu werden. Nicht nur Joschka Fischer joggte ins Auswärtige Amt, auch der ewige Kanzleraspirant Edmund Stoiber steigt allmorgendlich auf den Heimtrainer. Kaum ein Politiker verzichtet noch darauf, sich mittels Sonnenbank den Teint zu optimieren.

Als der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble für den Posten des Bundespräsidenten im Gespräch war, entstand prompt eine Debatte, ob ein Rollstuhlfahrer den körperlichen Anforderungen des Amtes gewachsen sein. Und Expräsident Johannes Rau sprach erstmals offen über eine frühere Krebserkrankung, als er das Schloss Bellevue verließ.

Freilich pflegen sich Krankheit oder Behinderung in einer funktionierenden Demokratie nur auf die Karrierechancen des Betroffenen auszuwirken, nicht aber auf die Zukunftsaussichten des ganzen Landes. So geißelte der britische Historiker Edward Gibbon schon vor mehr als 200 Jahren angesichts der römischen Kaiser „die Unbeständigkeit eines Glücks, das vom Charakter eines einzigen Menschen abhing“. Bei den Römern habe schlicht eine Verfassung gefehlt, die genügend Vorkehrungen gegen die Launen wechselnder Personen traf.

Lange stritten die Geschichtsforscher über die Frage, ob der Lauf der Welt stärker von einzelnen Personen oder von gesellschaftlichen Strukturen abhängig ist. Längst hat sich die Kontroverse beruhigt, sind doch beide Faktoren allzu eng verschränkt.

Das zeigt nicht zuletzt das Beispiel Strucks und Gysis. Dass sich eine ganze Partei von der Herzschwäche eines einzelnen Politikers abhängig wähnt, ist bezeichnend für den Zustand ebendieser Partei. Wäre die SPD mit ihren Reformen im Reinen, hätte die PDS eine Strategie für die Zukunft, dann könnten sie ihren Parteifreunden aufrichtige Genesungswünsche senden, statt sie politisch in die Pflicht zu nehmen.