■ Sieben Jahre Unabhängigkeit: Kaum genug zum Leben
Ein paar Mark hat Lilia heute auf dem Markt in Rigas Vorort Bolderaja verdient. Rund 100 Mark im Monat verdient sie mit dem Verkauf von Karotten und Kartoffeln. In einem guten Sommer- oder Herbstmonat sind es schon mal 250 Mark. Etwa ebensoviel bringt ihr Ehemann Anatolij als Fabrikarbeiter nach Hause. Nach Abzug der Warmmiete bleiben knapp 200 Mark monatlich übrig.
Doch sie können nicht klagen, denn damit gehören sie noch zum „reichen Drittel“ der lettischen Bevölkerung. 68 Prozent der LettInnen leben nach einem neuen Bericht des UN- Entwicklungsprogramms UNDP unter der Armutsgrenze. Sie haben im Monat weniger als 52 Lat, umgerechnet 130 Mark zur Verfügung. Überdies hat Lettland mit einer ungünstigen Alterssstruktur und einem negativen Bevölkerungszuwachs zu kämpfen. „Das Ungleichgewicht zwischen denen, die Steuern zahlen, und denen, die versorgt werden müssen, ist gewaltig“, berichtet der UNDP- Vertreter für Lettland, John Hendra. Bei einer Bevölkerung von 2,5 Millionen gibt es 700.000 RentnerInnen. Die öffentliche Debatte hat sich deshalb seit der Unabhängigkeit vorwiegend mit diesem „Altenproblem“ befaßt. Jedoch hat der UNDP-Bericht nachgewiesen, daß es Familien mit Kindern sind, die vor allem Hilfe benötigen.
Doch beim Versuch, im Wettlauf hin zur EU mithalten zu können, wurde besonders im Sozialsektor das Budget empfindlich zusammengestrichen. Die kostenlose medizinische Behandlung wurde ebenso abgeschafft wie Zuschüsse für Arzneimittel. Und auch wenn das Bewußtsein für die sozialen Probleme laut Hendra auch bei ultraliberalistischen Politikern deutlich gestiegen“ sei, machten die leeren Kassen jeden Ansatz einer verbesserten Sozialpolitik zunichte.
Zu allem Überfluß wird die lettische Regierung in dieser Politik auch noch bestätigt durch die EU und die meisten westlichen Länder. So kritisiert die EU-Kommission Lettland wegen der langsamen Privatisierung. Das Resultat: Eine wachsende Kluft zwischen der Bevölkerung und „denen dort oben“. „Diese wachsende Entfremdung ist eine Folge des niedrigen Lebensstandards“, meint UNDP-Mann Hendra: „Das Volk ist enttäuscht, daß man noch keine Vorteile der Selbständigkeit sehen kann.“ Und Hendra wundert sich, daß die Attraktivität „radikaler“ Lösungen nicht größer sind.
„Von unserer Mentalität her sind wir kein Volk, daß seine Konflikte handfest austrägt“, meint Juris Tihonov, Chefkommentator der Tageszeitung Diena. „Aber jetzt, nachdem die EU uns in die zweite Reihe gestellt hat, muß etwas passieren. Langsam ist es mit der Opferbereitschaft der Leute vorbei.“ Reinhard Wolff
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