: Sie will nichts hören und nichts sehen
Wie man erwachsen wird, wenn auf die Erwachsenen kein Verlass ist, fragt sich „En Garde“, der zweite Langfilm der Hamburger Regisseurin Ayse Polat
Der Titel des Films ist ein Aufruf, ein Kommando, eine Warnung. Für die 16 Jahre alte Alice (Maria Kwiatkowsky) ist es vor allem ein Lebensmotto, denn sie befindet sich in ständiger Abwehrhaltung gegen ihre Umwelt. Gegen ihre Mutter, die zu jung war, als ihre Tochter auf die Welt kam, und die froh ist, als sie Alice endlich in ein katholisches Heim für schwer erziehbare Mädchen abgeben kann. Gegen Schwester Clara, die Leiterin des Heims, und gegen deren Versuche, sich der verschlossenen Alice durch ungewohnte Offenheit zu nähern. Gegen ihre Mitbewohnerinnen, die die neu Angekommene vom ersten Tag an unter Druck setzen. Den offenen Widerstand kennt Alice nicht, aber Maria Kwiatkowsky gelingt es in einer außergewöhnlichen Darstellung, in der passiven Haltung ihrer Figur weder Duldsamkeit noch Indifferenz zu vermitteln, sondern eine Resistenz, die sich Angriffen wie freundschaftlichen Gesten entgegensetzt.
„Ich wollte nur eins: Sie sollten mich so behandeln, als wäre ich nicht da. Ich wollte nichts hören und nichts sehen.“ Ein offensichtlich unmöglicher Wunsch in einem katholischen Erziehungsheim, das keine Einzelzimmer kennt, in dem der Tagesablauf strengen Ritualen folgt und jede Bewegung und jedes Fortbleiben nach Sonnenuntergang sofort registriert werden. Schreib deine Wünsche auf, fordert Schwester Clara halb freundschaftlich, halb befehlend, aber Alice hat keine Wünsche oder zumindest keine, die sie irgendjemandem preisgeben möchte. Nicht einmal sich selbst, denn ihr größter Gegner ist sie selbst. Unfähig, nach außen zu kommunizieren, wendet sie die Aggression gegen sich, schneidet sich mit der Schere ins Fleisch, bis das Blut kommt. Statt unsichtbar zu werden, entwickelt ihr Körper eine Überempfindlichkeit des Gehörs. Das Ohr kennt kein Lid, das es zu verschließen vermag, und so wird schon das Summen der Neonlampen für Alice zu einer unerträglichen Qual.
Das Internat ist kein Ort, an dem so eine Schwäche bekannt werden dürfte. Die harte Schale, die Alice um ihre Verletzlichkeit legt, bekommt erste Risse, als sie Berivan (Pinar Erincin) kennen lernt. Das kurdische Flüchtlingsmädchen, das im Heim auf den positiven Bescheid ihres Asylantrages wartet, ist die Einzige, die von Alices Überempfindlichkeit weiß. Das Angebot, Freundschaft zu schließen, nimmt Alice nur widerwillig an. „Ich folgte ihr auf Schritt uns Tritt, weil sie das mit den Ohren wusste. So wurden wir Freunde. Weil sie dachte, dass ich sie mag.“ Berivan vertraut Alice und gesteht ihr, dass sie während der Reise nach Deutschland in Rumänien kurz aus dem Zug ausgestiegen ist. Weil dieser Schritt für die deutschen Behörden einen Abschiebegrund darstellt, weiß nicht einmal die Heimleiterin davon, von deren Beurteilung die Entscheidung über den Asylantrag abhängt. Beide Mädchen kennen das Geheimnis der anderen, doch die prekäre Freundschaft droht zu zerbrechen, als Berivan sich in Ilir (Luk Piyes) verliebt. Alice fürchtet, ihren einzigen Halt in der Welt zu verlieren.
Die Hamburger Regisseurin Ayse Polat erzählt in ihrem zweiten Langfilm eine „Coming of age“-Geschichte der ungewöhnlichen Art, darüber, wie die Angst vor Nähe und der Wunsch nach ihr zugleich bestehen können. Dafür haben sie und ihre Hauptdarstellerinnen in diesem Sommer beim Filmfestival von Locarno zwei Preise erhalten. In schmerzlich klaren Bildern beschreibt „En Garde“ einen Mikrokosmos aus Katholizismus, dem Gewähren oder Verweigern von Vertrauen und den Erfahrungen des Erwachsenwerdens in einer Welt, in der die Erwachsenen versagt haben. Viele dieser Dynamiken kennt Polat, da sie zeitweise in einer Begegnungsstätte für junge Frauen gearbeitet hat. Dort lernte sie Flüchtlingskinder und „Sozialwaisen“ kennen, und dort hat sie begriffen, dass es falsch wäre, die Jugendlichen nur als Opfer darzustellen. „Von außen stellt man sich unter Heimkindern immer etwas Tragisches vor. Aber sie haben auch eine große Stärke.“ Die falschen Fingernägel, die ihre Mutter ihr anstelle von Zuneigung gibt, reißt Alice sich wieder ab. Am Ende, als sie beschließt, eine große Verantwortung auf sich zu nehmen, wirkt sie viel zu erwachsen für das mit Sternchen verzierte rosa T-Shirt, das sie trägt. Und auf einmal wirkt das Fechtkommando „En Garde“ nicht mehr wie eine Drohung, sondern wie eine Einsicht und ein Versprechen. Sich angreifbar zu machen und anzugreifen, vorwärts zu gehen, sind dasselbe.
DIETMAR KAMMERER