Sicherheit in unsicheren Zeiten : Sind wir Spießer?
Aron würde gern mit Mathilda zusammenziehen, traut sich aber nicht, es vorzuschlagen, weil es „spießig“ sein könnte.
taz FUTURZWEI | Ich drücke meine Aufregung am Morgen mit der French Press in den Kaffeesatz. „Vielleicht wird unsere Generation spießig”, sagt Mathilda in ihrer Küche, während sie von einer Freundin erzählt, die seit fünf Jahren mit ihrem Partner zusammen ist. Die beiden lieben sich sehr aber leben nicht zusammen – und finden das super so. Nur wird Mathildas Freundin ständig gefragt, wann sie und ihr Freund endlich zusammenziehen, als wäre das der nächste logische Schritt – und zwar von Bubble-Komiliton:innen aus Berlin und nicht etwa von Provinzrentner:innen. „Vielleicht werden wir alle spießiger, weil die Welt um uns herum unsicherer wird“, sagt Mathilda angeregt.
Aron Boks und Ruth Fuentes schreiben die taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.
Boks, 27, wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.
Fuentes, 29, wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und war bis Januar 2023 taz Panter Volontärin.
„Aber was soll denn daran so schlimm sein, wenn man Bock hat, zusammenzuziehen?”, frage ich und sehe in das Herz aus Honig, das ich gerade in mein Müsli gemalt habe.
„Ich habe nicht gesagt, dass das schlimm ist – sondern spießig!”
„Ist das nicht das Gleiche?“, denke ich.
Später hole ich mir in ihrer WG-Küche noch einen Kaffee und treffe dort ihre Mitbewohnerin Karo und deren Partnerin Anastasia aus Spanien. Die beiden haben mal einen Text über Wörter veröffentlicht, die man nicht ins Spanische übersetzen könne. Spießer gehöre dazu.
Der seltsame Onkel
Als ich die Wortbedeutung recherchiere, erfahre ich in einer YouTube-Folge der Wissenssendung Galileo, dass das Wort „Spießer” auf den Begriff „Spießbürger” zurückgeht. Der war vormals in der Gesellschaft gut angesehen, weil er bereit war, seine Stadt und Heimat mit einem Spieß als Waffe zu verteidigen. Irgendwann wurde er aber von anderen eher belächelt, weil er sich weigerte, dieses Konzept abzulegen, als längst schon Feuerwaffen modern wurden. Seither gelten Spießbürger vor allem als solche, die sich gegen alles Neue, von der Norm abweichende stellen. Kann man das überhaupt umdeuten?
„Aron, wir haben jetzt doch eine Übersetzung”, ruft Karo aus der Küche. „Cuñado”, sagt Anastasia, als ich wieder bei ihnen am Tisch sitze. Slang-Spanisch für den Typus seltsamer Onkel, der Gendern, Veganismus und Polyamorie ablehnt. Aber zwischen so einem Onkel und jemandem, der sich wünscht mit seiner Partnerin zusammenzuwohnen, liegen doch Welten – oder nicht?
Blöde nervige Spießerkommiliton:innen, denke ich. Wahrscheinlich würde mich das alles gar nicht so beschäftigen, wenn ich in den letzten Tagen nicht selbst darüber nachgedacht hätte, wie es wäre, mit Mathilda zu wohnen, Tee zu trinken, Bücher zu lesen und gutes Olivenöl zu kaufen. Ich weiß nicht, wieso, aber der Gedanke gefällt mir. Und Karo erklärt mir, dass sie solche Dinge richtig gern macht, wenn Anastasia zu Besuch ist und nennt das dann bewusst und gern spießig.
taz FUTURZWEI ist das Magazin für Zukunft und Politik, eine Kooperation der taz und der FUTURZWEI Stiftung Zukunftsfähigkeit. Das Abo umfasst jährlich vier Ausgaben und kostet 34 Euro. Als Dankeschön erhalten Sie einen Einkaufsgutschein für den taz Shop in Höhe von 10 Euro.
Aber wie soll dieser Begriff positiv verwendet werden? Ist er nicht viel zu vorbelastet?
Ich frage meinen Freund Wolf, der Mitte der 70er vom katholischen Niederrhein nach Berlin-Schöneberg gezogen ist, was er von dem Begriff Spießer hält.
Spießer hassen alles Fortschrittliche
Innerhalb kürzester Zeit antwortet er mir per Messenger:
„Der Begriff Spießer ist für mich grundsätzlich negativ.
Steht für intolerant rechthaberisch unaufgeklärt Vorstadt Reihenhaussiedlung
Vorstufe vom Nazi
(Nicht zwangsläufig)
Vertritt repressive Strukturen“, schreibt er und die Nachricht wird immer mehr zum Gedicht.
„Spießer hassen alles Fortschrittliche
Hassen Veränderungen,
Manche hassen ihre Kinder
Oder ihre Frauen
Spießer sind geldgeil
Und haben keinen Geschmack
Ziehen sich sehr langweilig an
Ihr Weltbild ist klein und unersichtlich.“
Gut, das klingt eindeutig, denke ich. In den nächsten Tagen recherchiere ich weiter, um zu gucken, was es mit den Unsicherheiten unsere Generation auf sich hat.
Führt mangelnder Selbstwert zur Spießigkeit?
Gerade wurde die Trendstudie „Jugend in Deutschland” veröffentlicht. Sie zeigt, dass sich 51 Prozent der befragten jungen Deutschen zwischen 14 und 24 gestresst fühlen. Fast jeder Dritte hat Selbstwertprobleme.
Und vermutlich geht es bei Spießigkeit auch darum: mangelnden Selbstwert. Jedenfalls denke ich das, während ich ein paar Tage später mit meinem Freund Jerome unterwegs bin und er mir von seinem Mitbewohner erzählt.
„Der kommentiert jedes Mal, wenn ich einen Apfel nicht ganz abgegessen habe, wie viel da noch dran ist”, sagt Jerome genervt.
„Das ist wie Leute, die Lieferdienstessen oder Online-Shopping kommentieren”, sage ich. Ich bestelle sehr gern Essen, ein Guilty Pleasure. Aber ich versuche jeden Monat Trinkgeld zur Seite zu legen, weil ich will, dass die Fahrer:innen sich über besonders viel davon freuen.
taz FUTURZWEI N°28: Weiterdenken
Wer ist „Der kleine Mann“, wer sind „Die da oben“, wie geht „Weltretten“, wie ist man „auf Augenhöhe“ mit der „hart arbeitenden Bevölkerung“? Sind das Bullshit-Worte mit denen ein produktives Gespräch verhindert wird?
Über Sprache und Worte, die das Weiterdenken behindert.
U.a. mit Samira El Ouassil, Heike-Melba Fendel, Arno Frank, Dana Giesecke, Claudia Kemfert, Wolf Lotter, Nils Minkmar, Bernhard Pörksen, Bernhard Pötter, Florian Schroeder, Paulina Unfried, Harald Welzer und Juli Zeh.
„Mein Mitbewohner bestellt nie was im Internet.”, erzählt Jerome jetzt. Er weiß das, weil sein Mitbewohner ihm das jedes Mal sagt, wenn Jerome ein Paket bekommt. Nach Jeromes Definition ist ein Spießer jemand, der etwas macht, das in der Gesellschaft so wenig wie möglich auffällt. Der in seinem Schrebergarten sitzt und einfach nur Gartenzwerge bemalen will, sich aber aufregt und Anzeigen raus haut, wenn Nachbarn mal eine Party feiern.
Das Abwerten derer, die anders leben
Aus dieser Definition wäre Spießigkeit wirklich etwas Gefährliches, denke ich. Weil es Ausgrenzung, Missgunst und Feindseligkeit befördert. Und ich habe keinen Bock, den Rechten diesen Begriff zu überlassen. Ihn zu nehmen, bedeutet aber vielleicht auch sich von alt-linken Vorwürfen zu befreien, die seit 1968 das Weiterdenken verweigern. Schließlich ist es auch irgendwie spießig, Leute mit Gartenzwergen für Nazis zu halten und aus Prinzip nicht mit ihnen zu reden. Vielleicht finden die modernen Gartenzwergbesitzer es ja inzwischen voll okay, wenn im Nachbargarten Goa-Partys veranstaltet werden.
Wir sind als Nachfolgegeneration der Digital Natives seit unserer Pubertät von tausend Möglichkeiten der Entscheidung zur Lebensführung umgeben. Schnell kann diese Komplexität Fragen ans Selbst stellen, die durch die simpelste verfügbare Waffe stumm gemacht werden können: das Abwerten derer, die anders leben. Das beginnt schon mit einem ungefragten Kommentar zur Vorliebe des Apfelessens, mündet in einer Suggestivfrage zur Partnerschaft des Gegenübers und schließlich darin, Freiheit nicht als Glück, sondern als Gefahr zu sehen.
Dem Wort die Macht nehmen
Vielleicht ist es zu viel verlangt, den Begriff „spießig” gleich ganz ins Positive zu ziehen, denke ich in der Gemüseabteilung beim Einkaufen, bevor Mathilda wiederkommt. Vielleicht geht es eher darum, diesem Wort die Macht zu nehmen, indem man sich im Genuss der bewussten Auswahl dafür entscheidet, etwas zu tun – und nicht, weil ein Dogma das befiehlt. Ich, nur mal zum Beispiel, werde von anderen in meiner Bubble schon als spießig gesehen, weil ich immer mal wieder fröhlich am Sonntagabend Tatort gucke. Vielleicht sind da innere Spießer in uns allen, die immer dann laut werden, wenn die Unsicherheiten um einen herum größer werden, denke ich.
„Ja, und ich merke diese Spießer auch ganz oft in mir”, sagt Mathilda, als ich ihr später davon erzähle. „Ich ja auch”, antworte ich erleichtert, und in diesem Moment gibt keiner meiner inneren Spießer irgendeinen Ton von sich. Ich glaube jetzt, dass das eine gute Idee ist, ihr das mit dem Zusammenwohnen vorzuschlagen.
Wir können es ja immer noch WG nennen.