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Archiv-Artikel

Sicherheit auf Schritt und Tritt

Der Stollen: Historischer Abriss über ein im Fußball unverzichtbares Unterschuhwerk

Adenauer bohrte nach dem WM-Sieg 1954 seine Stollen tief ins Parkett des Parlaments

Ohne Schraubstollen kein „Wunder von Bern“ – bis heute geistert die Mär durch die Medien, im WM-Finale am 4. Juli 1954 seien von der deutschen Nationalmannschaft zum ersten Mal Schraubstollenschuhe getragen worden. Sicher ist es richtig, dass die schlanken, hohen Schraubstollen der deutschen Spieler auf dem schweren Boden des Berner Wankdorfstadions einen viel besseren Stand boten und beim sensationellen Sieg gegen die Ungarn vielleicht mit spielentscheidend waren. Aber der im Vorfeld der diesjährigen WM eskalierende Streit zwischen adidas und Puma um die Erfindung der Schraubstollen muss im Lichte neuer Forschungsergebnisse als reine Marketinginszenierung gesehen werden, denn keine der beiden Firmen hat die Schraubstollen für Fußballschuhe erfunden! Die Idee, die Sohlen von Sportschuhen mit zylindrisch geformten Profilzapfen zu versehen, die auf weichem Untergrund besseren Halt vermitteln, ist sehr viel älter.

Die Wurzeln des stollenbewehrten Schuhwerks reichen weit in die Geschichte zurück. Erste Versuche datieren aus dem frühen Mittelalter. Kommt der Ausdruck Stollen doch auch vom althochdeutschen Stollo, was so viel wie Pfosten oder Holzklotz bedeutet. Ein erster Beleg findet sich auf dem berühmten Gemälde von Roy Breughel dem Älteren „Ballspieler in Kerkrade“ aus dem Jahre 1564. Auf dem Bild ist deutlich zu erkennen, wie ein Spieler am Spielfeldrand längliche Holzklötzchen an seine Schuhsohlen nagelt. Es ist allerdings nicht überliefert, ob sich diese Urform der heutigen Stollen auf den meist regendurchnässten Böden der Niederlande durchsetzen konnte.

Die Spieler des AC Mailand jedenfalls wurden am 12. Januar 1898 nicht recht glücklich mit den neumodischen Stollen. Was sie nicht wussten: Zeugwart Luca Tramesoli hatte ihnen für das lombardische Derby gegen Atalanta Bergamo eigens importierte Stollen aus original englischem Gusseisen montiert. Im schweren Boden des Mailänder San-Siro-Stadions erwiesen sich diese als wahre Bleigewichte. Das gewohnt filigrane Spiel wollte sich so nicht einstellen – die Milanesi gingen mit 1:12 gegen den krassen Außenseiter unter.

Bis zum Wunder von Bern war es dann ein weiter und oftmals auch morastiger Weg. Unvergessen aber bleibt Konrad Adenauers legendäre Rede zur Lage der Nation, die er nach dem Sieg der deutschen Mannschaft über Ungarn vor dem Bundestag im stollenbewehrten Schuhwerk hielt. Der politische Gegner tobte angesichts dieser Missachtung der Würde des Hohen Hauses, doch der Alte von Rhöndorf ließ sich nicht beirren und bohrte seine Stollen tief ins Holzparkett des Parlaments, wo ihre Spuren noch heute zu besichtigen sind.

In Anbetracht des nahenden Weihnachtsfestes soll ein verhängnisvoller Irrweg bei der Weiterentwicklung rutschfester Schuhe nicht unerwähnt bleiben. Hellhörig geworden von den mit Stollenschuhen errungenen Erfolgen des VfB Leipzig, montierte der Dresdner Schuhmachermeister August Wall im November 1912 den Spielern vom Dresdner SC in falsch verstandenem Lokalpatriotismus erstmals „Original Dresdner Christstollen“ an ihre Schlappen. Auf vorweihnachtlich hartgefrorenem Boden hätte sich seine unkonventionelle Erfindung zwar recht gut bewährt. Beim direkten Aufeinandertreffen der beiden sächsischen Rivalen am 30. November kam es jedoch zu einem unerwarteten Wärmeeinbruch. Im tiefen Geläuf aber schmolzen seine Stollen dahin wie die sprichwörtliche Butter an der Sonne – die Elbflorentiner kamen gegen die gut aufgelegten Leipziger gnadenlos unter die Räder und waren mit einem schmeichelhaften 1:23 noch gut bedient. RÜDIGER KIND