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Short Stories from AmericaKommando SÜNDE-N-BOCK

■ Ein offener Brief an die USA und den Rest der Welt

In Krisenzeiten wollen die Leute Erklärungen. Wenn eine Tragödie passiert wie der Bombenanschlag auf das World Trade Center, bei dem fünf Menschen getötet wurden und Tausende verletzt, zudem auch noch die Fenster des Dachrestaurants zu Bruch gingen, dann will die Öffentlichkeit wissen, wer es war.

Der Vorstand und alle Mitarbeiter von SÜNDE-N-BOCK unterstützen alle Bemühungen, der Sache auf den Grund zu gehen (oder zumindest auf den Grund des World-Trade-Center- Parkplatzes), sind aber zugleich überzeugt, daß wir den heftigen Angriffen gegen alle möglichen „S“ widerstehen müssen, die sich in dieser Untersuchung zeigten. Soll unser großes Land die Tragödie auch noch durch Bigotterie verschlimmern?

Die ersten Verdächtigen waren Serben. Die zweiten waren Slawen, dann Saddam, dann Sunniten, dann Schiiten. Die Syrer gerieten in Verdacht, bis Assat erklärte, er arbeite an einem Friedensplan mit Israel, und nicht zufällig gab er dies kurz nach dem Bombenanschlag auf die Zwillingstürme bekannt: Syrien mußte aus der Schußlinie. Der Mann, der jetzt für das Verbrechen verhaftet wurde, heißt Mohammed Salameh, der Geistliche seiner Moschee ist Sheikh Omar Abdul Rahman. Der Mann, der mit dem Sheikh „in Verbindung stehen“ soll, ist El Sayyid Nosair, der zur Zeit im Gefängnis sitzt, im Zusammenhang mit der Ermordung von Meir Kahane.

Sicherlich werden die Amerikaner, die Sarajevo und Somalia so tapfer zur Hilfe eilten – zwei neueren Opfern der S-Jagd –, das Muster erkennen und darüber nachdenken, warum der Ärger immer mit einem „S“ anfängt. Historisch steht „S“ schon seit langem für das Böse. In diesem Jahrhundert brauchen wir uns nur der Sowjetunion zu erinnern, davor war es der Satan. Die Worte Sünde, Stereotyp, Schwert, Sockenfilz und unser Akronym Sündenbock folgen sämtlich dieser geheiligten Tradition. Sie ist so stark, daß ich, wie mir in den Tagen nach dem Bombenanschlag auffiel, ihr selbst zum Opfer fiel und bereit war, den Kampf aufzugeben. Wenn man sie nicht schlagen kann, soll man mit ihnen gemeinsame Sache machen, hörte ich mich murmeln. Setze dich nicht über die Vorurteile der Leute hinweg, bediene dich ihrer, dachte ich vor mich hin und hoffte schon fast, der Verdächtige werde sich als jemand entpuppen, der hinter Salman (Rushdie) her war. Ich dachte, die Vereinigten Staaten würden dann vielleicht irgend etwas gegen diese seit vier Jahren anhaltende Jagd unternehmen.

Aber ich erholte mich schnell. Als Individuen wie als Nation lassen wir uns nicht dazu verführen, alle „S“ in Grund und Boden zu verdammen, auch wenn das die einfachste Lösung wäre, auch wenn eine schnelle Lösung dringend gebraucht würde. Zur Vernunft brachten mich die Meldungen über die Scheine für kostenlose Lebensmittel. Im März dieses Jahres waren 10,4 Prozent der Amerikaner auf diese Scheine angewiesen, mehr als jemals seit Einführung des Programms vor 25 Jahren. Die Zahl der Amerikaner, die Lebensmittelscheine zum Überleben brauchen, ist in den letzten drei Jahren um 36 Prozent gestiegen – obwohl nur 60 Prozent der Antragsberechtigten (das heißt 60 Prozent der 36 Millionen Amerikaner, die an oder unter der Armutsgrenze leben) Anträge stellen. Voller Angst stellte ich mir bereits die Schlagzeilen vor: „Lebensmittelscheine untergraben das Fundament der Nation“, und schuld an der Bombe wären die Scheine. Wieder einmal wurde mir ins Gedächtnis gerufen, daß das Gesetz der „S“ solange und überall herrscht, bis wir alle dagegen vorgehen. Ich fordere alle auf, sich SÜNDE-N-BOCK beim Kampf gegen die Herrichtung von Sündenböcken anzuschließen.

Seit der Meldung über die Lebensmittelscheine waren nur wenige Tage vergangen, als die Untersuchungsbehörden auch schon begannen, für die Explosion Sex verantwortlich zu machen. Entschuldigung: ich meine natürlich Sekten – wie die Sekte in Waco, Texas, wo David Koresh und fast alle seine davidischen Gefolgsleute sich auf eine Schießerei mit der Bundespolizei einließen, wobei vier Polizisten und zwei Sektenmitglieder tot auf dem Platz blieben (mir hätte es gut in den Kram gepaßt, wenn sich Sex als Schuldiger für den Bombenanschlag erwiesen hätte – vielleicht irgendein Kerl, der in einem Auto auf dem Parkplatz einhändig beim Lesen war. Vor mir sah ich bereits die Schlagzeilen: Ein Schuß erledigt die Türme. Dann hätten wir endlich einen Verantwortlichen gehabt).

David Koresh, der eigentlich Vernon Wayne heißen soll, wurde 1959 in Houston geboren. Er war ein schlechter Schüler und ging vorzeitig ab, zeigte jedoch eine ungewöhnliche Fähigkeit, Passagen aus der Bibel auswendig zu lernen. Als Teenager, so erzählte seine Mutter der New York Times, fand sie ihn oft in einer Ecke der Scheune beim Beten (siehe auch einhändig, oben). Seine Versunkenheit ins Gebet ging soweit, daß er 1984 ein vierzehnjähriges Mädchen schwängerte und heiratete und 19 andere Frauen davon überzeugte, es sei Gottes Wunsch, daß sie mit ihm schliefen, um die Kinder zu zeugen, die das zukünftige Haus Davids regieren sollten.

Er konnte auch eine ganze Menge andere überzeugen, ihm auf sein Gelände nach Waco zu folgen, um die Bibel zu lesen und Gitarre zu spielen, erzählten ehemalige Angehörige seiner Gruppe. Diejenigen, die auch weiterhin an Wayne's Wert – Entschuldigung: Welt – glauben, sind überzeugt, er sei Gott und die Apokalypse stehe vor der Tür. Er besitzt 30 Hektar Texasland, mindestens ein Maschinengewehr auf einem Dreibein und ein großes Versteck mit halbautomatischen Waffen, um den ewigen Frieden näherzubringen.

Aber dieser Mann, der bedürftigen Menschen seinen Körper bot, wird von Bundesagenten verfolgt, weil er eine Sekte führt. Aus dieser Art Vorurteil kann nichts Gutes erwachsen. In dieser Ära nach dem Kalten Krieg haben wir die Sowjetunion durch einen neuen S-ismus ersetzt, so wie die UdSSR früher den Satan ersetzte. Hören wir die Worte Gandhis und Martin Luther Kings: Machen wir Schluß mit der Jagd auf die S. Mit freundlichen Grüßen: SÜNDE-N-BOCK (SÜNDE- N-BOCK = „Sünde Null Bock“) Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning

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