Short Stories from America: Weibliche Parthenogenese
■ Amerikanische Statistik des späten 20. Jahrhunderts – jenseits der Zeiten
Letzte Woche las ich eine Überschrift, die mich vollauf zufriedenstellte. „Bericht des Statistischen Bundesamtes: Immer mehr Männer bumsen und hauen ab“, schrieb die New York Times. Männer, die Frauen schwängern und Mutter und Kind verlassen, erscheinen mir nicht bewundernswert. Aber mir gefällt die Überschrift als solche – in ihrer Art heutzutage so üblich, daß sie gar nicht auffiele, erinnerte man sich nicht an Überschriften aus früheren Zeiten. Die Titelzeile mit den „Männern, die bumsen und abhauen“, rief mir ins Gedächtnis zurück, wie man mit solchen Dingen in jener historischen Periode umging, die neulich im Seminar: „Amerikanische Frauen zwischen den Urnen: Vom Wahlrecht bis zur ersten Präsidentin“ behandelt wurden. Eine Überschrift vom 14. Juli 1993 liefert ein Beispiel: „Statistisches Bundesamt: Immer mehr unverheiratete Mütter“. Zwei andere lauten: „Sozialleistungen beweisen kräftige Zunahme bei ledigen Müttern“ und „Ledige Mütter bedeuten Armut“.
Heute wirken solche Überschriften seltsam, aber damals waren solche sensationslüsternen Artikel ganz üblich, zu einer Zeit, in der aus Gründen, über die sich noch immer die Historiker streiten, die menschliche Reproduktion als weibliche Parthenogenese begriffen wurde. Heute, da jeder Nintendo-Kindergarten- Lehrplan von einem zwiegeschlechtlichen Modell ausgeht, wirkt die Theorie von der weiblichen Parthenogenese wie aus einer anderen Welt. Dennoch war sie im späten 20. Jahrhundert Realität. Besonders verwirrte die Erforscher jener Zeit, daß die Leute aus dem 20. Jahrhundert an ihrer Theorie festhielten, obwohl die Rolle der Männer bei der Reproduktion schon seit Hunderten von Jahren bekannt war. Eine Übersicht über die Primärquellen zeigt, daß irgendwann im späten 19. Jahrhundert – während Darwin, Freud und diese Leute mit den Atomteilchen die Wissenschaft vorwärtsbrachten – das öffentliche Bild der Reproduktion sich de facto zur weiblichen Parthenogenese wandelte. Die Entwicklung der Pille zur weiblichen Geburtenkontrolle um 1960 betonte die Rolle der Frauen noch stärker. Der zweite – männliche – Partner hatte in der öffentlichen Vorstellung keinen Platz. Während die Öffentlichkeit in technischem Sinne die Rolle der Spermien anerkannte, war ihr dies in praktischem Sinne völlig fremd. Alle Reproduktionsthemen – von Geschlechtskrankheiten bis zur Bevölkerungskontrolle – wurden als Frauenfrage abgehandelt.
Öffentliche Kampagnen warnten Männer davor, daß sie sich bei Frauen, besonders bei Prostituierten, mit Geschlechtskrankheiten und Aids anstecken könnten – aber niemand stellte die Frage, woher denn die Frauen diese Krankheiten bekämen. Schließlich – wie in der oben angegebenen Schlagzeile von 1993 – konzentrierte sich auch die Familienpolitik auf Frauen und Kinder. 1993 verließ jeder vierte amerikanische Vater seine neugeborenen Kinder und die Mutter seiner Kinder. Oder um es in der damals üblichen Weise auszudrücken: ein Viertel von Amerikas unverheirateten Frauen wurde zu unverheirateten Müttern. Das war eine 60prozentige Zunahme gegenüber dem Jahrzehnt zuvor. 55 Prozent der schwarzen Väter, 33 Prozent der hispanischen Väter und 14 Prozent der weißen Väter verließen ihre Neugeborenen und deren Mütter. Oder, wie es die Leute des späten 20. Jahrhunderts sagen würden: 55 Prozent der schwarzen Frauen, 33 Prozent der hispanischen Frauen und 14 Prozent der weißen Frauen gebaren außerhalb der Ehe.
Wie Mister David Ellwood, ein Fürsorgeberater für den damaligen Präsidenten Bill Clinton, sagte: Das Fürsorgesystem „erwartet von einem Elternteil die Arbeit von zweien“ – ein enthüllender Satz. Der Gedanke der weiblichen Parthenogenese war allgemein so selbstverständlich, daß Ellwood gar nicht mehr genauer anzugeben brauchte, welcher Elternteil denn die Arbeit tat. Die größte Zunahme an niemals verheirateten Müttern zeigte sich in jenem Jahr unter weißen Frauen der Mittelklasse. Weiße Frauen und Collegeabsolventinnen wurden doppelt so häufig zu unverheirateten Müttern wie im Jahrzehnt zuvor. Für Frauen aus den freien Berufen und in Management-Positionen stieg die Zahl fast auf das Dreifache.
Unter den Ergebnissen des Berichts von 1993 wird man Daten über die ökonomische und Ausbildungssituation von Kindern finden, die von ihren Vätern verlassen wurden, oder, wie es das 20. Jahrhundert ausdrückte: über Kinder in alleinerziehenden Haushalten. In jenem Jahr ging in 47 Prozent der Familien unter der Armutsgrenze der Vater auf und davon – oder, um den Jargon des 20. Jahrhunderts zu benutzen: 47 Prozent der Familien mit einem weiblichen Haushaltsvorstand lebten unter der Armutsgrenze; bei den Familien mit zwei Kindern waren es dagegen 8,3 Prozent. Kinder, die von ihren Vätern verlassen wurden, erzielten auch mit größerer Wahrscheinlichkeit schlechte Noten und verließen vorzeitig die Schule. Auch in diesem Punkt sieht man im Bericht aus dem 20. Jahrhundert keine Verbindung zwischen der Armut der Frauen und Kinder und dem Verlassen durch die Männer. Wenn hingegen Kinder weißer Mittelklassefrauen nicht in Armut lebten und die Schule nicht vorzeitig verließen, hätten die Leute aus dem späten 20. Jahrhundert doch eigentlich zu dem Schluß kommen können, daß die Ehe für sich genommen noch keine Lösung gegen Armut und vorzeitiges Verlassen der Schule ist, sondern vielmehr Geld einen wichtigen Faktor bildet. Hier begegnet uns eine verblüffende Einzelheit aus der Mentalität des 20. Jahrhunderts: Kinder galten als Produkt der Frauen, Familienprobleme lagen in der Verantwortung der Frauen – aber zur Lösung dieser Probleme riet man den Frauen, Männer zu heiraten, die keine Verantwortung für ihre Kinder übernahmen und sie regelmäßig verließen. Im gleichen Monat, in dem das Statistische Bundesamt den Bericht über die „ledigen Mütter“ veröffentlichte, beschloß das Repräsentantenhaus des Kongresses, auch weiterhin für Abtreibungen armer Frauen keinerlei Bundeszuschüsse zu gewähren. Arme Frauen wurden auch weiterhin zu „ledigen Müttern“ unter der Armutsgrenze – aber im 20. Jahrhundert sah kaum jemand diesen Zusammenhang.
Ebenfalls im Juli 1993 formierte sich die Opposition gegen die Ernennung einer gewissen Jaqueline Elders auf die höchste Position des US-Gesundheitswesens. Dr. Elders sprach sich für Geburtenkontrolle aus, für Sex- und Aids-Erziehung und die Verteilung von Kondomen in Schulen – Programme, die die Zahl der „ledigen Mütter in Armut“ durchaus hätten senken können. Deshalb galten ihr die Angriffe von „Amerikas Frauen in Sorge“, der christlichen Koalition und der Koalition der traditionellen Werte. Insbesondere „Amerikas Frauen in Sorge“ bezeugten im Kongreß, Dr. Elders werde die „Unschuld und den Anstand“ der Kinder „verletzen“. Diese besorgten amerikanischen Frauen dürften noch niemals mitgekriegt haben, wie Kinder Doktor spielen. Vielleicht haben sie auch niemals die 47 Prozent der Kinder gesehen, die mit ihren Müttern in Armut leben. Wie sonst hätten sie zu dieser Ansicht kommen können? Umfangreichen Forschungen zum Trotz sind die Historiker der Klärung dieser Frage noch nicht nähergekommen. Marcia Pally
Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning
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