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Short Stories from AmericaNoch mehr Schlafmützen

■ Amerika hat ein neues Verbrechensbekämpfungsgesetz

Letzte Woche hat der US- Kongreß ein Gesetz verabschiedet, das Präsident Clinton als „den härtesten, umfassendsten, ausgefeiltesten Angriff der Bundesbehörden gegen das Verbrechen in der Geschichte unseres Jahrhunderts“ bezeichnete. Mit 30,2 Milliarden Dollar ist es jedenfalls das teuerste. Da Verbrechen bisher in erster Linie unter die Zuständigkeit der Einzelstaaten fielen, ist dieses neue Gesetz außerdem das einzige koordinierte Bundesgesetz gegen Verbrechen in der Geschichte und damit automatisch auch das „härteste“ und „ausgefeilteste“. Aber das ist kleinlich gedacht.

Auch andere Leute waren kleinlich, wie zum Beispiel der konservative Senator Bob Dole – er kritisierte die 8,8 Milliarden Dollar für die Verbrechensprävention als liberal und zu nachgiebig. Die Liberalen kritisierten das Gesetz, weil es nicht genug Gelder für die Verbrechensbekämpfung und zuviel für Gefängnisse (8,8 Milliarden) und Polizei (10,7 Milliarden) bereitstelle. Das macht 19,5 Milliarden für Strafmaßnahmen. Der gesamte Bundesetat für Ausbildung beträgt demgegenüber 8 Milliarden, und das Pentagon kommt mit annähernd 300 Milliarden aus. Ich sehe die Sache ein bißchen anders: Das Gesetz hat wirklich einen Mangel, aber mit den Dollars hat er nichts zu tun.

Viele Beobachter, darunter Strafverfolgungsexperten, haben beklagt, daß das Gesetz nun 60 Verbrechen mit der Todesstrafe bedroht, für die das bisher nicht galt. Wenn jetzt ein Achtzehnjähriger in der Bronx ein Auto klaut, über die nahe gelegene George-Washington-Brücke nach New Jersey fährt und dort das Radio ausbaut, ist er tot. Das erschien den Beobachtern ein bißchen hart, im übrigen treffe das doch wohl kaum die Wurzel der Gewalttätigkeit. Aber sie irren sich. Wie Senator John Conyers aus Michigan sagte: „Harte Strafen haben keine Wirkung, aber sie sind politisch populär.“ Es ist ein Wunder, daß es in der amerikanischen Linken immer noch ein paar Schlafmützen gibt, denen man das erklären muß. Nein, mit den sechzig neuen Kapitalverbrechen hat der Mangel des Gesetzes nichts zu tun.

Andere Beobachter – noch mehr Schlafmützen auf der Linken – jammern über die „Drin- nach-dem-dritten-Mal“-Bestimmung, wonach lebenslänglich ins Gefängnis wandert, wer dreimal wegen schwerer Verbrechen verurteilt wurde. Manche nennen das ein „Geriatrie-Gefängnis“, weil die Steuerzahler letzten Endes die Verbrecher bis ins Alter unterhalten müssen. Das Durchschnittsalter von Gewaltverbrechern liegt bei 25 bis 29. Die Wahrscheinlichkeit von Gewaltverbrechen sinkt nach dem dreißigsten Jahr deutlich und fällt bis zum vierzigsten Lebensjahr fast auf Null. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes beträgt 70 Jahre. Nach der „Drin-nach-dem-dritten-Mal“- Bestimmung wird die Nation jeden Gefangenen nach Verübung seines Verbrechens 40 bis 45 Jahre lang unterhalten, davon 30 Jahre über den Zeitraum hinaus, in dem er gefährlich war und von der Straße mußte. Die Durchschnitts-Haftkosten betragen 26.000 Dollar pro Person und Jahr – ohne medizinische Behandlungskosten, die im Alter steigen. S. M. Cohen, der in Kalifornien eine lebenslange Haft verbüßt, ist jetzt 67 Jahre alt, hat Diabetes und Krebs und kostet den Staat jedes Jahr 125.000 Dollar für ärztliche Behandlung – außer im letzten Jahr, als ein Herzschrittmacher die Rechnung um weitere 76.000 Dollar in die Höhe trieb.

Aber selbst ohne medizinische Extras liegen die 26.000 Dollar Grundkosten höher als die Jahreskosten eines Studiums in Harvard und höher, als irgend jemand jährlich für mich übrig hat. Es wäre billiger, solche Verbrecher zum Besuch einer Spitzenuniversität auf Kosten des Steuerzahlers zu verurteilen und sie erst nach dem erfolgreich bestandenen Examen zu entlassen.

Manche Leute meinten, für langfristige Verbrechensbekämpfung könnten diese Mittel besser eingesetzt werden, wenn man sie in den Ausbildungssektor steckt. Aber das ist nicht der schwerste Mangel am neuen Gesetz. Auch Philipp Heymann trifft nicht den Punkt, der Juraprofessor aus Harvard und bis zu seinem Rücktritt im Februar stellvertretende Justizminister. Heymann hat festgestellt, daß die derzeitige Zahl der Gefängnisinsassen in den Vereinigten Staaten mehr als dreimal so hoch ist wie 1980, aber von einem entsprechenden Verbrechensrückgang konnte nicht die Rede sein.

1980 waren siebenmal mehr Menschen wegen Gewaltverbrechen im Gefängnis als wegen gewaltloser Drogenvergehen. Von 1986 bis 1993, als sich die Verhaftungen stärker gegen die Drogenbenutzer richteten, sperrten die Einzelstaaten 140.000 Menschen wegen Drogenvergehen ein – 80 Prozent davon hatten zuvor keine Gewalttaten begangen, und 20 Prozent waren vorher noch nie straffällig geworden. 18.000 Bagatellverbrecher ohne gewalttätige Vergangenheit und ohne Verbindungen zu einer Drogenorganisation wurden zu 5 bis 10 Jahren Gefängnis verurteilt. 1992 wurden mehr Menschen wegen gewaltloser Drogenvergehen eingesperrt als wegen aller Gewaltverbrechen und Diebstähle zusammen. Heymann weist darauf hin, daß wir keine neuen Gefängnisse zu bauen bräuchten, wenn das Land gewaltlose Drogentäter therapieren statt einsperren würde. Das mag vernünftig sein, den schwersten Mangel dieses Gesetzes trifft es nicht.

Den entscheidenden Mangel fand ich in einer Geschichte der New York Times über das Gehirn. Anscheinend sind die Gehirne von Jungen starrer und verletzungsanfälliger als die von Mädchen, und zwar schon während der Schwangerschaft. Hormone, die von männlichen Föten freigesetzt werden, beschleunigen die Reifung des männlichen Gehirns und verknüpfen schon früh die einzelnen Verbindungen, belassen es jedoch – mitsamt seinen Informationen – während und nach der Geburt starrer und verletzungsanfälliger und ohne die Fähigkeit zur Selbstheilung. Während die Gehirne von Mädchen elastisch sind und sich von Verletzungen erholen können, wachsen und neue Verbindungen knüpfen können, sind Jungs- Hirne dazu nicht in der Lage.

Ich behaupte nicht, daß diese Mängel des männlichen Gehirns Aggressionen auslösen und für die hohe Zahl der von Männern begangenen Verbrechen verantwortlich sind. Ich behaupte bloß, daß sie vielleicht etwas mit der Logik mancher Gesetze zu tun haben. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning

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