Short Stories from America: Wenn der Eierlikör in Strömen fließt
■ Jugendalkoholismus läßt sich durch Etikettenüberkleben verhindern
Die Weihnachtsausgabe der New York Times brachte eine ernste, dem Zeitpunkt angemessene Ermahnung zum Problem Kinder und Alkohol während der Feiertage. Für den Fall, daß sich die europäischen Zeitungen unverantwortlich nachlässig zeigen sollten, bringe ich Ihnen diese Warnung zu Gehör. Der Kinderalkoholismus steigt: Über die Hälfte der amerikanischen Kinder lernen den Alkohol schon vor der vierten Klasse kennen, dreimal mehr als noch vor zehn Jahren (behauptet das Forschungsinstitut für Suchtkrankheiten des Staates New York). „Alkohol ist bei Kindern die erste Wahl“, berichtete Professor Lawrence Wallack von der Universität von Kalifornien in Berkeley (dem Zentrum der amerikanischen Gegenkultur). Die Times empfahl daher den Eltern, „sich mit den Trinkgewohnheiten ihrer Kinder auseinanderzusetzen, besonders während der Feiertage, wenn Eierlikör, Sekt und andere Alkoholika in Strömen fließen“.
Insbesondere, vermerkte die Times, sollten die Eltern auf die schädlichen Auswirkungen der Anzeigen für Absolut-Wodka achten. Die Anzeigen demonstrieren, wußte Wallack zu warnen, „wie Alkoholfirmen sich in die Jugendkultur einschmeicheln“. Da muß man Herrn Wallack recht geben: Diese Anzeigen treiben Kinder in den Suff. Die farbenprächtigen, raffinierten Anzeigen zielen ganz offensichtlich auf Kinder, wie zum Beispiel jene mit einer Flasche in der Form der Brooklyn Bridge (Überschrift: „Absolut Brooklyn“) oder die, in der überhaupt keine Flasche zu finden ist (Überschrift: „Absolut Houdini“) oder die mit der Überschrift „Absolut Cummings“ (nach dem Dichter E.E. Cummings, für diejenigen Erwachsenen, die gerade kein Kind zur Hand haben, das ihnen eine Erklärung liefern könnte). Es stimmt, daß junge Menschen diese Anzeigen sammeln – anscheinend der nächste Schritt nach den Baseballbildchen – und ihr Reiz könnte, wie die Times schrieb, „im Unterbewußten suggestiv“ wirken.
Als ich diese Weihnachtswarnung las, fiel mir voller Panik ein, daß meine Patentochter, fünfzehn Jahre alt, Absolut- Wodka-Anzeigen sammelt. Außerdem wurde mir bewußt, daß ihre Eltern sich sogar mit ihr darüber unterhalten und so ihre zukünftige Sucht fördern – vielleicht sogar ihre gegenwärtige, wer weiß? Die Eltern behaupten, sie entschlüsselten mit ihrer Tochter die Witze und sprächen über die kulturellen Bezüge. Aber hörte, sah und las nicht ganz Amerika wochenlang von der sechsjährigen Elisa Izquierdo, die unter den Händen ihrer drogensüchtigen Mutter starb, die sie schon seit Jahren geschlagen hatte? Ein Schicksal, das sich hätte verhindern lassen. Ist ein Gespräch über die Anzeige für Absolut-Wodka nicht eine deutliche Ermutigung zum Alkoholismus – eine Form elterlicher Vernachlässigung? Habe ich die Alarmsignale mißachtet? Bin ich mitschuldig?
Sofort rief ich meine Patentochter an und fragte, ob sie Alkoholikerin sei oder jemals gewesen sei. Sie fragte zurück, ob ich vielleicht unter PMS zu leiden hätte (das steht gewöhnlich für das „Prämenstruelle Syndrom“, unter Jugendlichen aber auch für das „Parental Mental Syndrom“, den „elterlichen Beklopptheitszustand“ – was mich dazu veranlaßte, über Anzeigen für weibliche Hygieneartikel nachzudenken: Bewirken sie vielleicht „im Unterbewußten suggestiv“ Respektlosigkeit gegenüber dem Alter?). Meine Patentochter behauptet, sie habe mich nur beruhigen wollen, aber ich bin nicht beruhigt, ganz und gar nicht. Was sonst könnte denn den gewaltigen Anstieg des Kinderalkoholismus ausgelöst haben, wenn nicht die Absolut-Anzeigen? Gelegentlich finden sich in der Presse auch Berichte, die auf andere Ursachen hinweisen – wie im letzten Sommer der Bericht aus Luxemburg, wonach arme Kinder in Amerika ärmer sind als arme Kinder in 15 von 18 Industrieländern. Im letzten Frühjahr erstellte eine Gruppe von Ärzten, Lehrern, Geschäftsleuten und Politikern für die Carnegie Corporation in New York einen Bericht über Kinder und Armut. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß drei Millionen Babies und Kinder (jedes vierte Kind in Amerika) in Armut leben; amerikanische Kinder werden im Vergleich mit anderen Industrieländern mit der geringsten Wahrscheinlichkeit geimpft; immer mehr Kinder werden Zeugen häufiger Messerstechereien, Schießereien und häuslicher Gewalt; und immer mehr werden tagsüber so schlecht betreut, daß ihre neurologische Entwicklung bedroht wird, was zu Lernschwierigkeiten und emotionalen Problemen führt. Fügen wir noch hinzu, daß in manchen Städten wie New York die Ausgabensteigerungen im Bildungsbereich fünfmal stärker in die zentrale Verwaltung flossen als in den praktischen Unterricht.
Aber Armut, Gewalt, Frustration wegen Lernunfähigkeit und Wut über die zukünftige, kaum vermeidbare Arbeitslosigkeit sind nicht entscheidend. Das sind höchstens Symptome des eigentlichen Problems. Wir müssen vielmehr, meint jedenfalls Professor Wallack, den Absolut-Anzeigen Einhalt gebieten, bevor sie „dazu beitragen können, ein höheres Niveau des Alkoholverbrauchs in der Öffentlichkeit durchzusetzen“.
Das habe ich mir für das neue Jahr vorgenommen. Mit diesem Entschluß ging ich zur Silvesterparty meiner Freunde. Das Motto war: Bring einen Mann mit, der dich nicht interessiert – vielleicht interessiert er eine andere. Weil alle sich wohlfühlen sollten, brachten alle was zu essen oder trinken mit. Ich brachte Whisky und Sekt. Und weil die Kinder meiner Freunde das mitkriegen konnten, habe ich das Problem auf meine Weise gelöst: Ich überklebte die Etiketten. Marcia Pally
Aus dem Amerikanischen von Meino Büning
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