Shir Hever über soziale Ungleichheit: "Israel exportiert die Besatzung"
Israel profitiert von der Besatzung der palästinensischen Gebiete und den internationalen Hilfen für die Palästinenser. Shir Hever über die Ursachen der sozialen Ungleichheit und die Rolle der Besatzung dabei.
taz: Herr Hever, Sie behaupten in Ihren Publikationen, dass die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete die Ungleichheit in der israelischen Gesellschaft verstärkt habe. Wie kommen Sie dazu?
Shir Hever: 1965 war Israel eine Art Wohlfahrtsstaat, der zwischen Finnland und den Niederlanden rangierte. Heutzutage gilt Israel neben den USA als das westliche Land mit der größten Ungleichheit. Es unterscheidet sich nicht sehr von Mexiko.
Was hat das mit der Besatzung zu tun?
Der 30-jährige Israeli ist Wirtschaftswissenschaftler und arbeitet für das Alternative Informationszentrum in Jerusalem. Diese 1986 gegründete israelisch-palästinensische Organisation befasst sich wissenschaftlich mit dem Thema soziale Gerechtigkeit in Israel und Palästina. Shir Hever forscht seit vier Jahren zu den wirtschaftlichen Grundlagen und Folgen der Besatzung.
Dass palästinensischen Arbeitern in Israel die grundlegenden Rechte verwehrt wurden, hat die israelische Arbeiterklasse entrechtet und entmachtet. Als Israel die Praxis der Abriegelungen begann, war die heimische Industrie bereits dermaßen auf billige, ungelernte Arbeitskraft angewiesen, dass man Gastarbeiter aus Ostasien, Afrika, Osteuropa, Lateinamerika herbringen musste, um die palästinensischen Arbeiter zu ersetzen. Andernfalls wären das gesamte Baugewerbe und die Landwirtschaft zusammengebrochen.
Was meinen Sie damit, wenn Sie von der Vorenthaltung grundlegender Rechte sprechen?
Israel behielt von palästinensischen Arbeitern Beiträge zur Sozial- und Rentenversicherung ein sowie Steuern und gab ihnen nichts dafür. Das ist eine andere Form der Ausbeutung. Wurden sie entlassen, erhielten sie keine Abfindung, wurden sie arbeitslos, krank oder berufsunfähig, wurde ihnen nichts gezahlt.
Die israelische Besatzung hat sich von Anfang an negativ ausgewirkt?
Anfangs waren die Grenzübergänge offen, sodass die Palästinenser weiterhin Handel mit Jordanien und Ägypten betreiben konnten. Israel erlaubte es palästinensischen Arbeitern, nach Israel zu kommen und zu arbeiten. Israelischen Touristen wurde es gestattet, ins Westjordanland und nach Gaza zum Einkaufen zu fahren. Im ersten Jahr nach der Besatzung verbesserte sich deshalb die wirtschaftliche Lage in den besetzten Gebieten. Es gab sogar Programme, palästinensischen Bauern zu helfen, ihre Bewässerung zu verbessern.
Das klingt nicht feindlich.
Ja, aber zugleich gab es ein ungeschriebenes Gesetz, die Palästinenser an der Entwicklung ihrer eigenen Wirtschaft derart zu hindern, dass sie nicht mit der israelischen Industrie konkurrieren konnte. Von Anfang an wurde es den Palästinensern nicht erlaubt, ein eigenes Finanzsystem zu schaffen oder Schwerindustrie aufzubauen.
Welche anderen Formen der Benachteiligung durch Israel gab es?
1991 war der erste Golfkrieg. Da hofften viele Palästinenser auf einen Sieg von Saddam Hussein. Als sie diese Meinung äußerten, erzürnte das die israelische Regierung. Diese entschied, das palästinensische Volk als Ganzes zu strafen, indem sie die ersten Abriegelungen verhängte.
Was hatte das für Folgen?
Wegen der Abriegelungen waren die Palästinenser willens, das Paris-Protokoll zu unterzeichnen, der wirtschaftliche Anhang zum Oslo-Abkommen. Das legte eine Art Zollunion unter Israels Kontrolle fest. Das heißt, dass Israel alle Zollgebühren und die Mehrwertsteuer für die palästinensische Wirtschaft erhebt, um dann dieses Geld an die Palästinensische Autonomiebehörde weiterzuleiten. Israel tut das manchmal, manchmal aber auch nicht. In diesem Vertrag gibt es auch eine Klausel, die besagt, palästinensische Arbeiter dürften jederzeit nach Israel reisen und dort arbeiten. Israel setzte diese Klausel nie in die Tat um.
Wie ist derzeit, 15 Jahre nach Oslo, die wirtschaftliche Lage in den besetzten Gebieten?
Die Arbeitslosigkeit ist im Steigen begriffen. Es gibt immer noch keine industrielle und finanzielle Infrastruktur. Seit den Oslo-Abkommen gibt es eine neue Einkommensquelle, die die Menschen am Leben erhält, und das ist internationale Unterstützung: die Hilfen aus dem Ausland. Sie tragen seit 1994/95 vielleicht am meisten zur palästinensischen Wirtschaftsleistung bei. Im Jahr 2003 stellte sie die Hälfte des Bruttovolkseinkommens der palästinensischen Wirtschaft dar.
Können denn die ausländischen Gelder und Hilfslieferungen den Lebensstandard der Palästinenser sichern?
Eine sehr traurige Seite dieser Hilfeleistungen ist: Sie verbessern die Lage der palästinensischen Wirtschaft überhaupt nicht, sodass heute, 2009, der Lebensstandard der Palästinenser niedriger ist als vor zehn Jahren. Diese Unterstützung ist nicht imstande, die Lage der Palästinenser zu verbessern, da der größte Teil in die israelische Wirtschaft fließt.
Wieso denn das?
Zuerst müssen alle Hilfslieferungen in israelischen Häfen oder am Flughafen abgefertigt werden. Zollgebühren und Lagerkosten werden an die israelische Regierung gezahlt. Dann müssen die Waren auf israelischen Lastwagen transportiert werden, bevor sie an die Palästinenser übergeben werden. Wegen des Paris-Protokolls ist es in der Tat günstiger für die Hilfsorganisationen, die Lebensmittel von israelischen Firmen direkt zu kaufen, obwohl sie in Jordanien und Ägypten billiger sind. Aber dann müssten sie Zölle bezahlen.
Israel profitiert also von der Besatzung?
Seit 1996 hat Israel sein früheres Außenhandelsdefizit in einen Überschuss verwandelt. Denn all die Hilfsgelder für die Palästinenser müssen von Euro und Dollar in israelisches Geld umgetauscht werden. Daher bekommt die Zentralbank von Israel eine Menge ausländische Währungen und verkauft den ausländischen Spendern dafür israelische Schekel. Die Folge davon ist, dass Israel gewissermaßen einen Weg gefunden hat, die Besatzung zu exportieren. Man kann sagen, dass die Besatzung der palästinensischen Gebiete Israels zweitgrößter Exportartikel nach der Waffenindustrie geworden ist.
Können Sie uns Zahlen nennen über den wirtschaftlichen Verlust für die Palästinenser durch die Besatzung?
Das ist ein sehr heikles Thema, den Einkommensverlust wegen der Zollunion zu ermitteln, die Ausbeutung palästinensischer Arbeiter, die Enteignung von Land, den Verlust der Flüchtlinge von 1948 und von 1967, den Verlust durch Hauszerstörungen. Und wie will man eigentlich den Verlust von Leben oder den Verlust an Gesundheit für die Palästinenser berechnen?
Verursacht die Besatzung nicht auch Kosten?
Bis zur ersten Intifada 1987 hat die israelische Wirtschaft ganz klar von der Besatzung profitiert. Seither haben die Palästinenser Israel in der Tat gezwungen, mehr Geld in die Sicherheit zu investieren. Seit den 1980er-Jahren ist die Besatzung für die israelische Wirtschaft eine immer größer werdende Last geworden, da Israel mehr Soldaten einsetzen muss, mehr Ausrüstung, Kameras, Zäune.
Und was kostet die Aufrechterhaltung der Besatzung den Staat Israel?
Das ist schwer zu beziffern, aber meiner Schätzung zufolge kostet die Besatzung Israel pro Jahr etwa neun Milliarden US-Dollar. Davon entfallen etwa drei Milliarden auf staatliche Beihilfen an Siedler, da Israel die Siedlungen subventioniert. Siedler erhalten bessere Bildung, gratis Land und bezahlen weniger Steuern. Es gibt eine Liste an Subventionen, mit denen Israel es Israelis schmackhaft macht, in die besetzten Gebiete zu ziehen und Siedler zu werden.
Was wäre Ihr Wunsch an die ausländische Politik, an Deutschland, an die Europäische Union?
Die EU muss viel strenger mit Israel sein. Die Europäer müssen aufhören, so viel Angst zu haben. Ich meine, sie sind in der Lage, die Besatzung sofort zu beenden, dazu gehört gar nicht viel.
Was schlagen Sie vor?
Zuerst sollten Israelis ein Visum benötigen, um in die Europäische Union einzureisen. Israelische Kriegsverbrecher sollten vor Gericht gestellt werden, wenn sie auf europäischem Boden landen. Israels Handelsvorteile sollten aufgehoben werden, bis es die Mindestanforderungen des internationalen Rechts erfüllt.
Ein Boykott?
Wir sprechen nicht über einen vollen Boykott, den ich im Übrigen unterstütze. Was ich gesagt habe, ist bereits ausreichend, um Israels Politik zu ändern. Denn Israel ist sehr von Europa abhängig. Wenn die Elite in Israel - die Reichen, die am meisten zu verlieren haben und die am meisten Einfluss auf die Regierung haben - der israelischen Regierung sagt: Wegen eurer Taten können wir keine Geschäfte mehr in Europa machen, deshalb verlegen wir unsere Firmenzentrale in ein anderes Land, dann wird die israelische Regierung ihre Politik augenblicklich ändern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht