: Shakespeare reloaded
An der McGill Universität in Montreal arbeiten Studenten und Professoren an einem alternativen Gesetzestext – nach dem Werk von Shakespeare. Eine akademische Revolte
VON JUDITH LUIG
Die Frage kommt bei jedem Flug. Unausweichlich. Sobald Paul Yachnin seinem Sitznachbarn seinen Beruf gestanden hat. Einige nehmen höflich ein paar Umwege, andere zeigen direkt ihr Unverständnis: „Kann man denn noch etwas Neues über Shakespeare sagen?“
Man kann. Und William Shakespeare kann auch immer noch Neues sagen. Über gleichgeschlechtliche Ehe zum Beispiel oder über die Verurteilung von ehemaligen KZ-Aufsehern. Wie, das will der Anglist Paul Yachnin mit einem ehrgeizigen Projekt an der McGill Universität in Montreal zeigen. Zusammen mit dem Rechtsphilosophen Desmond Manderson und Studenten beider Fakultäten hat Yachnin ein Gericht geschaffen, dessen Gesetze aus den Dramen William Shakespeares abgeleitet werden und das über Fälle entscheidet, die die Gesellschaft im 21. Jahrhundert beschäftigen.
Gerade planen sie den ab Januar 2007 zu verhandelnden Prozess. Es soll um die Grenzen von religiöser Toleranz gehen. „Naheliegend wäre ein Zeuge Jehovas, der aus Glaubensgründen seinem Kind eine lebensrettende Bluttransfusion verweigert“, überlegt Yachnin. Aber das ist ihm dann doch zu einfach. Die Professoren lassen diesmal beim Erstellen des Tatbestands ein bisschen mehr Fiktion zu als sonst. Man wird mutiger mit der Zeit. „Es könnte leicht unsere kontroverseste Diskussion werden“, hofft Yachnin. Grob soll es um einen Vater gehen, der glaubt, Gott habe ihm den Auftrag gegeben, seinen Sohn zu opfern. Erst in letzter Minute wird er durch einen vermeintlichen Engel gestoppt – ein Mix aus biblischer Geschichte und zeitgenössischen Selbstmordattentätern. „Die Tat findet am Mont Royale statt, und die Ziege ersetzen wir durch ein Eichhörnchen“, schlägt Manderson vor. „Oder durch das Pferd eines vorbeikommenden Polizisten, das dann als Opfer geschlachtet wird“, wünscht sich Yachnin. Wie auch immer der Fall aussehen wird, die Verhandlung wird schwierig. Doch Yachnin und Manderson konstruieren bewusst widerspenstige Fälle. Beide Seiten sollen sich anstrengen.
Die Professoren unterrichten gemeinsam eine ausgewählte Gruppe von Studenten in einem Seminar zu jeweils einem speziellen Fall, den sie zwar leicht modifiziert haben, der aber so ähnlich bereits vor einem Gericht verhandelt wurde. Manderson lehrt juristische Grundlagen, Yachnin führt in die Dramen ein, die für diesen Fall interessant sein könnten. Die Studenten finden sich zu zweit in Teams zusammen, um Anklage und Verteidigung zu stellen. So kann eine Juristin einem Anglisten ihre Disziplin erklären, und umgekehrt. Ein Semester lang erarbeiten sie ihre Plädoyers, meist unter Mitleidenschaft ihres gesamten Freundeskreises, denn Shakespeares Gericht ist ein aufwändiges Projekt und seine Teilnehmer sind höchst diskutierfreudig.
Für die Anglistikstudentin Amy Jean Britton war bereits die erste Hürde, dass sie die Anklage übernehmen musste, und nicht die Verteidigung. „Wir haben Lose gezogen, und ich habe dummerweise die Seite bekommen, die ich gar nicht vertreten würde.“ Letztlich stellte sich aber gerade das als Glücksfall heraus. „So musste ich mein eigenes Wertesystem radikal hinterfragen und eine Legitimation für etwas entwerfen, an das ich gar nicht glaube. Das kann sehr erhellend sein.“
Am aufregendsten an dem Projekt ist jedoch die Gerichtsverhandlung des Falls, die das Semester abschließt. „Oh, die Studenten sind immer furchtbar nervös“, erklärt Desmond Manderson und sieht dabei sehr zufrieden aus. „In einem Referat“, sagt Britton, „kann man gut oder schlecht abschneiden. Bei der Gerichtsverhandlung aber geht es darum, Recht oder Unrecht zu haben. Beziehungsweise zu bekommen. Das macht es viel spannender.“ Allerdings bringt das auch einige Spannungen in die Fakultät. „Ein paar der Studenten, die ihren Fall vor Shakespeares Gericht verloren haben“, erzählt Manderson, „haben nachher für ein paar Monate nicht mehr mit uns sprechen wollen.“
Weil die nach Shakespeares Gesetz verhandelten Fälle bereits vor staatlichen Gerichten entschieden worden sind, ist das Gericht von McGill eigentlich die Berufungsverhandlung – und eine höhere Instanz. Eine Viertelstunde bekommt jeder einzelne Rechtsvertreter, dann, nach einer kurzen Beratung, ergeht das Urteil nach Shakespeare – gefällt und höchst eloquent gesprochen von Manderson, Yachnin und einem Gastrichter. Ein bisschen professorale Eitelkeit muss schließlich drin sein.
Kanadische Gerichte urteilen nach dem Common Law, das gilt auch für Shakespeares Gerichtshof: Die Rechtsprechung bezieht sich auf Präzedenzfälle, deren Urteile wiederum die folgenden Verhandlungen bestimmen. Da das Shakespeare Gericht erst 2002 gegründet wurde, muss es, genau wie das Common Law bei seiner Entstehung, erst die Urteile, nach denen die Gesellschaft leben soll, erarbeiten. Wenn ein Team also zum Beispiel die Mörder von Hatun Sürücü anklagen wollte, dann könnte es argumentieren, dass Frauen ein Recht auf die Selbstbestimmung über ihren Körper haben und sich auf „Maß für Maß“ berufen. Aber was ist mit Lavinia, der Vergewaltigten, die vom Vater schließlich ermordet wird? Ganz so einfach ist es nicht, aus Shakespeares Werken Normen abzuleiten, nach denen eine zeitgenössische Gesellschaft richten kann. „Auch als großer Liebhaber von Shakespeare muss man darauf gefasst sein, dass manchmal der Text das nicht hergeben will, was man als Leser so gern hineinlesen möchte“, so Yachnin. Auch das lehrt das Projekt – Kritik an der eigenen Lesehaltung und dem Wunschdenken, dass Shakespeare immer nur unseren heutigen Idealen entspräche. „Aber Gesetze sind schließlich auch nicht zeitgenössisch. Auch sie sind im Laufe der Zeit entstanden“, unterbricht Manderson.
Das Aktualisieren von Normen ist nicht unproblematisch. Zum Beispiel bei der gleichgeschlechtlichen Ehe. Shakespeares Dramen behandeln zwar homosexuelle Liebe, wie die von Olivia zu Viola in „Was ihr wollt“, und man kann in manchen Texten das Verlangen eines Mannes nach einem anderen Mann sogar als das authentischere Gefühl interpretieren, aber die Institution Ehe bleibt die Verbindung von Mann und Frau. „Das mag schon sein, Hohes Gericht“, erklärt die Jurastudentin Aruna Sathanapally in ihrem Plädoyer, „aber die Überschreitung von geltenden Normen ist oft grundlegender Bestandteil bei der Wahl von Ehepartnern. Wie zum Beispiel im ‚Mittsommernachtstraum‘.“ So fordere Shakespeares Gesetz selbst, dass Urteile immer wieder überdacht würden. Am Heinrich-Fall von 2002, einem an den Eichmann-Prozess angelehnten Fall, der als erster vor das literarische Gericht gebracht wurde, haben die Richter entschieden, dass einem Menschen seine Identität zugestanden werden müsse. „Dieses Urteil muss auch für eine homosexuelle Identität, wie sie die heutige Gesellschaft anerkennt, gelten.“
Begonnen hat das Projekt als Übung in der momentan so subventionsträchtigen Interdisziplinarität. „Im Grunde erforschen wir mit Jura- und Anglistikstudenten, wie Texte und ihre Bedeutungen entstehen“, erklärt Desmond Manderson. Schließlich geht es in beiden Fällen um die Interpretation von Texten, durch die Urteile gebildet werden.“ Manderson und Yachnin erkunden, wie gesellschaftliche Normen textlich ausgedrückt, festgehalten oder verändert werden. Zumindest war das zu Beginn erklärtes Ziel. „Eigentlich haben wir aber erst verstanden, was wir erreichen konnten, als wir die ersten Gerichtsverhandlungen erlebten“, räumt Manderson ein. „Ich habe mir am Anfang nur gedacht, dass es ein interessantes Experiment sein könnte“, erklärt Yachnin. „Aber dann habe ich herausgefunden: Unser Gerichtshof ist ein Gegengift gegen den Zynismus.“
Juristen neigten dazu, Gesetze nur noch zu studieren und nicht mehr zu hinterfragen. „Unser Projekt zeigt, wie Rechtsprechung von einer Gesellschaft gemeinsam erarbeitet wird“, sagt Manderson. „Zu viele Menschen sehen heute Gesetzestexte nur als eine fremde Macht an, die uns aufoktroyiert wurde. Das ist gefährlich für die Gesellschaft und ihre Beziehung zum Gesetz.“ Gleichermaßen sei der studentische Gerichtshof ein Spiegel für den universitären Betrieb und seine Selbstbezogenheit. Akademiker schrieben Aufsätze, die vielleicht gerade mal von 150 Lesern wahrgenommen würden – und das auch nur in den ersten Monaten nach ihrem Erscheinen, so Yachnin. Schuld daran seien die Verfasser selbst. „Akademiker praktizieren oft eine Art strategischer Amnesie.“ Und ließen allzu oft nur die Fakten gelten, die ihr Argument weiterbringen. Im besten Falle reagierten sie im Anschluss an ihren Vortrag fünf Minuten lang auf Fragen.
Aber vor Shakespeares Gericht muss man seinen Standpunkt verteidigen und nicht nur erklären – mit allen Mitteln seines Wissens und seiner Argumentationskraft. Der Anglist Ian Whittington hat das am eigenen Leibe erlebt. „Sie haben mich über dem Feuer geröstet“, erinnert er sich an seinen Auftritt als Verteidiger eines mutmaßlichen Mörders. Kaum hatte der Student den ersten Satz seines Plädoyers über Vorverurteilungen eines bereits einmal überführten Straftäters ausgesprochen, als ihm schon ein Richter ins Wort fiel. Aber Whittington hat den Angriff sportlich genommen. Für ihn hat die Verbindung zwischen Theater und Gesetz noch eine andere Dimension. „Der Gerichtshof ist wie eine Bühne. Du gehst raus und spielst deine Rolle.“ Darin liege der spezielle Reiz des Projekts. „Literaturwissenschaftler lieben solche Aufführungen.“ Vielleicht fällt es einigen der Anglisten deswegen auch leichter, auf die Einwände der Professoren einzugehen. Während die Juristen auffallend häufig sagen, „Ich bin nicht sicher, ob ich Ihre Frage verstanden habe, Euer Ehren“, verweisen die Literaturwissenschaftler einfach schnell auf ein anderes Stück, sobald der Boden unter Othello zu dünn geworden ist. „Es ist eben ein Wettstreit“, sagt Whittington.
Hier im Gerichtssaal seien alle Teilnehmer herausgefordert. Studenten wie Professoren sind dazu gezwungen, alle Argumente ernst zu nehmen, denn schließlich basiert ihre eigene Arbeit auf dem Dialog mit der Gegenseite. So intensiv beschäftigen sich Professoren sonst nicht mit den Thesen ihrer Studenten.
Wegen der prestigeträchtigen Vorlage kann es im Gericht schon mal pathetischer zugehen. „Dir, Herr und Herrin meiner Leidenschaft“, Sonett XX, wird gegen die Heteronormität ins Feld geführt. „Wenn, was hier steht, sich je als falsch ergibt, dann schrieb ich nie, nie hat ein Mensch geliebt“ (Sonett CXVII), wird als Finale des Plädoyers umgedichtet zu: „Sehen wir ergangenes Urteil als bloß erdichtet, dann sprach ich nie, nie hat ein Mensch gerichtet.“
Trotzdem sollte man McGills Gerichtshof nicht als Theater ansehen. Oder doch? Desmond Manderson möchte da bewusst keine Grenzen ziehen. „Das einzige Indiz, das ich dafür habe, dass es sich bei uns nicht um einen rechtskräftigen Gerichtshof handelt, ist, dass uns bislang noch niemand angerufen und gebeten hat, seinen Fall zu verhandeln“, erklärt er. „Aber das könnten die Leute ruhig machen.“ In ein paar Jahren haben Studenten und Professoren mit ihrem Projekt genug Präzedenzfälle entwickelt, dass Shakespeares Gesetz beruhigt in Konkurrenz zu geltendem Recht treten kann. Ob dann weiser geurteilt wird, ist eine andere Frage.
JUDITH LUIG, 31, ist Redakteurin im taz.mag Informationen zu dem Projekt finden sich unter: www.mcgill.ca/shakespearemoot