Sexuelle Übergriffe auf dem Oktoberfest: O'grapscht is
Nächsten Samstag startet in München das Oktoberfest. Sexuelle Übergriffe gehören dort zum Alltag. Rund zehn Vergewaltigungen pro Oktoberfest gehen in die Statistik ein – die Dunkelziffer wird auf 200 geschätzt.
Menschenmassen schieben sich aneinander durch die breiten Wege, es blinkt und lärmt aus allen Ecken. Der Überblick geht schnell verloren auf Münchens Oktoberfest. Die Wiesn ist laut, chaotisch, wirr. Einmal aus dem Zelt, wenn auch nur zur Toilette, wird man von den Sicherheitsleuten oft nicht mehr zurück gelassen. Ständig brechen die Handynetze zusammen, sodass man niemanden erreicht, wenn das Handy nicht sowieso schon längst geklaut worden ist.
In all dem Chaos verlieren sich Gruppen, Mädchen stehen betrunken und verwirrt allein vor den Zelten. Ausnahmezustand – und Gefahr. „Genau das“, sagt Christine Rudolf-Jilg von der Initiative „Sichere Wiesn für Mädchen und Frauen“, „nutzen Täter oft gezielt aus. Sie bieten den Mädchen an, sie nach Hause zu bringen.“
Was dann passiert, darüber gibt es nur Schätzungen. Rund 10 Vergewaltigungen pro Oktoberfest gehen in die Statistik ein – die Dunkelziffer wird auf 200 geschätzt, und sexuelle Belästigung, die nirgendwo sonst akzeptiert würde, ist auf der Wiesn Alltag.
Julia arbeitet seit fünf Jahren als Bedienung auf der Wiesn, auch dieses Jahr wieder. Die Berlinerin hat sich so ihr Sportstudium finanziert. Den Stress kann die 28-Jährige irgendwie aushalten, die Männer auch. Julia ist das Thema unangenehm, sie möchte ihren Nachnamen deshalb lieber nicht nennen. „Freunde haben oft beobachtet, wie mir Gäste an den Hintern grapschen“, erzählt Julia, „ich selbst registrier das gar nicht mehr.“ Meist kann sie ohnehin nichts dagegen tun – mit zehn Maßkrügen in der Hand ist sie schwer damit beschäftigt, einfach nur durch die Massen zu kommen.
Christine Rudolf-Jilg kennt solche Geschichten. „Auf der Wiesn passiert es Frauen schneller als sonst irgendwo in der Stadt, dass sie heftig angemacht und angegrapscht werden“, erzählt die Sozialpädagogin.
Dieser Text ist aus der sonntaz vom 12./13.9.2009 – ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk.
Der Termin: Nächsten Samstag, punkt zwölf Uhr mittags, wird Münchens Oberbürgermeister Christian Ude mit einem Schlegel mehrmals kräftig einen Zapfhahn in ein Bierfass schlagen und damit das Oktoberfest mit dem Ruf: "Ozapft is" eröffnen.
Das Fest: Seit 1810 wird auf der Münchner Theresienwiese gefeiert. 16 Tage dauert das größte Volksfest der Welt, etwa sechs Millionen Menschen gehen inzwischen jedes Jahr hin, trinken etwa 60.000 Hektoliter Bier, essen bald eine halbe Million Brathendl, über 110.000 Paar Schweinswürstel und gut 50.000 Schweinshaxn.
Und dabei bleibt es nicht. Jedes Jahr wieder werden etliche Frauen Opfer sexueller Übergriffe. Deshalb haben drei soziale Organisationen im Bereich Frauen- und Mädchenarbeit zusammen mit dem Münchener Jugendamt vor sechs Jahren die Initiative gegründet. 36 Fachkräfte und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen kümmern sich auf der Wiesn um die Mädchen und Frauen, die von Securityleuten gebracht werden oder selbst noch den Weg zur Station der Initiative finden. An die 100 Frauen landen dort bei jedem Fest.
„Wir dachten uns irgendwann, es kann doch nicht sein, dass sechs Millionen Menschen auf dem Oktoberfest zusammen fröhlich feiern, wir aber jedes Jahr von Vergewaltigungen lesen müssen“, meint Rudolf-Jilg. Warum aber zeigen so wenige Frauen eine Vergewaltigung an? „Es gibt immer noch diesen Mythos, Frauen wären selber schuld daran, vergewaltigt zu werden, schließlich wüssten sie doch, dass es auf der Wiesn ruppig zugeht.“ Wer das nicht wolle, der solle doch zu Hause bleiben. „Wir werden tatsächlich immer noch oft mit solchen Weisheiten konfrontiert.“ Doch da wird die Sozialpädagogin energisch. „Selbst wenn die Frau nackt auf der Wiesn herumläuft: Wenn sie vergewaltigt wird, ist das immer noch eine Straftat.“
Aber die übermächtige Idee von der Frau, die durch ihr Verhalten den Täter provoziert hat, ist wohl einer der Gründe dafür, dass sich so wenige Vergewaltigungsopfer zur Polizei wagen. Sie suchen die Schuld bei sich. Die Täter hingegen beteuern, der Alkohol sei schuld gewesen, völlig betrunken hätten sie nicht mehr gewusst, was sie tun. Rudolf-Jilg glaubt nicht daran. „Wenn ein Mann wirklich volltrunken ist, ist er gar nicht mehr in der Lage, eine Frau zu vergewaltigen“, meint die 47-Jährige. „Man hat festgestellt, dass Vergewaltiger zwar angetrunken sind, aber niemals total besoffen.“ Die meisten Vergewaltigungen auf dem Oktoberfest werden vorher geplant und gezielt begangen. Haupttatort: der Heimweg.
Die Münchnerinnen wissen das, sie wappnen sich für die 16 Ausnahmetage. Zu Normalzeiten gelten nächtliche Spaziergänge in München eher als ungefährlich. Während der Wiesn aber nehmen viele Anwohnerinnen der Theresienwiese selbst für kurze Strecken ein Taxi. Die Initiative „Sichere Wiesn“ bietet sogar Selbstverteidigungskurse für ihre Mitarbeiterinnen an. „Schließlich müssen die nach Dienstschluss auch sicher nach Hause kommen“ sagt Rudolf-Jilg.
Julia geht nach ihrer Schicht nie allein zurück zu der Wohnung, in der sie für die Wiesnsaison unterkommt. „Ich achte immer darauf, dass wir zu mehreren gehen und mich ein Freund direkt zur Tür begleitet.“ Zu oft habe sie von belästigten Kolleginnen und Vergewaltigungen auf dem Heimweg gehört. Julia ist auf der Wiesn noch nie etwas passiert. Sie hat Glück gehabt.
Update 2016: Wie gut lässt sich sexuelle Gewalt in Zahlen fassen? Ein Faktencheck.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann