Serienkolumne Die Couchreporter: Europas Drama in Serie
Die zweite Staffel der US-Serie „The Leftovers“ hat viele Parallelen zur aktuellen Flüchtlingsdebatte. Sie ist eben nur nicht echt.
Vergangene Woche war ich in Izmir in der Türkei. Das ist jene Küstenstadt, von der aus im Sommer und Herbst Tausende Flüchtlinge in Schlauchboote gestiegen sind, um über das Meer nach Griechenland und damit nach Europa zu fahren.
Heute steigt dort kaum noch jemand in Boote. Der Deal mit der Türkei hat die Schlepper auf neue Routen verdrängt, die Flüchtlinge folgen ihnen. Wenn man heute an der Steilküste vor Izmir entlangläuft, die griechische Insel Chios in Sichtweite, kann man sich ungefähr vorstellen, wie es hier zugegangen sein muss. Mir kam dabei die zweite Staffel der HBO-Serie „The Leftovers“ in den Sinn.
Der Kern der Serie ist eine Dystopie: Von einer Sekunde auf die andere verschwinden zwei Prozent der Weltbevölkerung. Die erste Staffel handelt davon, wie die Übriggebliebenen, die „Leftovers“, versuchen, klarzukommen. Die zweite Staffel spielt an dem Ort, den alle Miracle nennen. Es ist der einzige, aus dem niemand verschwunden ist. Er muss etwas Magisches haben. Viele wollen dort hinziehen, Kranke werden dort geheilt.
Ich hab mir nun also Europa als Miracle vorgestellt, als den Ort, der seit 70 Jahren vom Schrecken verschont bleibt. Keine Naturkatastrophen wie in Südostasien. Keine Hungersnot, wie sie derzeit in Äthiopien droht. Keine Kriege wie im Nahen Osten. Keine zerfallenden Staaten wie in Nordafrika. Europa ist das Wunder, von dem sich viele Menschen ein besseres Leben versprechen.
Aber auch Miracle „kann nicht alle aufnehmen“. Miracle hat Obergrenzen eingeführt. Rein kommt nur, wer ein langes Bewerbungsverfahren durchläuft und eine Genehmigung bekommt (Hallo Asylrechtsverschärfung). Miracle ist rundum eingezäunt (Hallo Orbán, Hallo Bulgarien, Hallo Mazedonien), wird von bewaffneter Polizei bewacht (Hallo Frontex). Um die Stadtgrenzen drumherum hat sich ein riesiges Lager gebildet, in dem Menschen darauf warten, in Miracle wohnen zu dürfen (Hallo Idomeni, Hallo Calais).
500 Leute in Ruinen
So wie dieses Lager aussieht, so ungefähr habe ich mir Izmir bis vor Kurzem vorgestellt. In einer Bucht steht ein riesiger Hotelkomplex, der nie fertig gebaut wurde. Ruinen von Bungalows, ohne Fenster und Türen: Das sogenannte „afghanische Dorf, weil hier vor allem Afghanen gewartet haben, bis zu 500 Leute pro Nacht.
Überall liegen noch Essenverpackungen, Windeln, Pullover, Kinderschuhe, vergilbte Familienfotos. Gegen 3 oder 4 am Morgen haben die Schlepper die Leute in die Boote getrieben. Ohne Licht durch die Dunkelheit, rein in die Boote und dann hoffen, dass sie die vier Kilometer bis ins griechische Hoheitsgewässer schaffen. Auch in Miracle versuchen Leute, nachts durch den Zaun zu schlüpfen. Es gelingt ihnen selten, und wenn, dann werden sie irgendwann als Eindringlinge erkannt und abgeschoben.
Die Staffel endet im Übrigen damit, ACHTUNG SPOILER, dass die, die vor den Stadtmauern hausen, Miracle stürmen. In Zeitlupe und mit großer Wut. Ein bisschen wie in Idomeni – nur dass deren Sturm auf Europa erstens an Tränengas und Gummigeschossen scheitert und zweitens ohne Special Effects, dramatische Musik und Heldengeschichte auskommen muss.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!