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Seniorentheater statt Renten-ÖdnisAufbruch in ein neues Leben

Früher waren sie Richter, Ärzte, Schreiner und Philologen, heute schauspielern sie. Rente, das heißt für sie: Theaterproben und volles Haus.

Noch mehr Theater

In beinahe jeder Stadt sind inzwischen Seniorentheatergruppen zu finden. Sie sind unterschiedlich organisiert, mitunter an das Stadttheater angeschlossen und haben verschiedene Themenschwerpunkte. Mehr Information über den Bund Deutscher Amateurtheater.

Vom 2. bis 5. Oktober 2008 findet in Hamburg in Kooperation mit dem Hamburger Schauspielhaus und der Körber-Stiftung das Seniorentheater-Festival "Herzrasen" statt. Thema des 2. Theatertreffens: Second Life - wie sich die Generation 60+ den Herausforderungen eines "zweiten Lebens" stellt.

Da - der Hänger. Hans-Dieter Helmeke stockt. Verzieht das Gesicht. Kämpft mit sich. Die Souffleuse springt ein. Ah. Es geht weiter im Text. Die Tischrunde der Schauspielgruppe "methusalems" atmet auf. 28-mal haben sie Joseph Kesselrings "Arsen und Spitzhäubchen", ein Stück voller irrsinniger, mordlüsterner, älterer Herrschaften, schon gespielt. Acht Monate lang, teilweise täglich, geprobt. Auftritte, Abgänge, Dialoge, Mimik, Körperausdruck, Kostüme, Licht… Doch immer wieder sind sie da, das Lampenfieber und die Aufregung, die Anstrengung. Wasser, Eukalyptusbonbons, Taschentücher - für alles ist deswegen schon gesorgt. Jetzt ist äußerste Konzentration gefragt im Probenraum des Freiburger Stadttheaters.

Heute werden die Rollen nur noch einmal repetiert. Helmeke, 73 Jahre alt, spielt den Massenmörder Jonathan, der seine nicht minder morderfahrenen Tanten Abby und Martha heimsucht. Dabei sieht er im wirklichen Leben so gar nicht erschreckend aus. Im Gegenteil. Mittelgroß, schlank, mit vollem dunkelblondem Haar und gepflegter Haut, scheint er doch ein ruhiger und freundlicher Mensch zu sein, gewohnt, seine Umgebung mit dem milden Auge des Unparteiischen zu erfassen. Doch heute Abend ist sein Blick bohrend, sein Tonfall irritierend beängstigend, seine Bewegungen bedrohlich. Helmke mutiert zum gefährlichen irrationalen Mörder. Eine Traumrolle für den früheren braven Richter. In ihr kann er, wie er verschmitzt gesteht, so richtig den inneren Bösewicht herauslassen.

Auch Renate Gimmi, 76, ist alles andere als die tüttelige Abby, die ihr die Rolle abverlangt. Die anthroposophische Ärztin mit dem kraftvoll grauweißen Haarschopf und dem frischen Gesicht lacht: "Andere in meinem Alter absolvieren mühsam ein Gedächtnistraining." Sie dagegen bestreitet mühelos eine Aufführung, in der sie gut zwei Stunden pausenlos präsent zu sein hat. Überhaupt: Altersbeschwerden, wie eine schmerzende Hüfte, haben sich seit dem Theaterspiel für sie erledigt. Die Treppen auf der Bühne meistert sie mit jugendlichem Schwung. Ihre Schauspielleidenschaft brachte auch sonst noch allerhand Veränderungen mit sich. Sie zog aus einem noblem Freiburger Wohnviertel und Neun-Zimmer-Haus in eine Drei-Zimmer-Wohnung in der Innenstadt: "Ich wollte einfach näher am Theater sein", sagt sie. "Meinen Kindern habe ich gesagt: Wenn ich damit klarkomme, dann klappt auch alles andere." Für "Arsen und Spitzenhäubchen" hat sie sogar ihren Brotberuf zwei Jahre früher an den Nagel gehängt, als die Krankenkasse es erlaubt hätte. Jetzt geht sie gänzlich auf in der Rolle der altjüngferlich-mörderischen Abby - für sie "man darf es ja fast nicht sagen: der Höhepunkt meines Lebens".

Abitur, Jurastudium, Familie, Richter und Beamter auf Lebenszeit. Mit 65 in Pension. Medizinstudium, Ärztin, fünffache Mutter. Und dann die Rente. Helmekes und Gimmis Lebensläufe waren geordnet - mit einigen Höhen und Tiefen. Und dann? Geruhsames Spazierengehen am Freiburger Dreisamufer, verplauderte Kaffeekränzchen am kerzengedeckten Tisch, erinnerungsseliges Fotoalbensortieren? Das konnte nicht alles gewesen sein. Sie hatten noch Träume, die sie schon lange begleiteten. Hans-Dieter Helmeke war vor seinem Jurastudium bei einer Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule durchgefallen und auch Renate Gimmi wollte schon von Jugend an schauspielern.

Aber wie das so ist mit Träumen - sie scheitern oft an der Realität. An den Eltern zum Beispiel. Lern du erst mal einen richtigen Beruf, heißt es, danach können wir weitersehen. So wendet sich der Blick, auch das Leben nimmt eine andere Wendung. Nicht einmal eine unglückliche muss es sein. Vergessen aber blieben die Kindheitsträume nie. Und mit einem Mal war sie da, die große Chance. Endlich! Zu einer Zeit, als die beiden sie schon so gut wie begraben hatten. Eine Zeitungsanzeige im Jahr 2000 elektrisierte sie. Senioren suchte man, zur Gründung einer Bühnentruppe. Mindestalter: 65 Jahre. Das krempelte ihr Leben um.

Helmut Grieser, der Mann, der niemals ohne Schal um den Hals gesehen wird, damals noch festangestellter Schauspieler am Freiburger Theater, erzählt bereitwillig von damals, als er die Anzeige aufgegeben hatte. "Eines Morgens stand ich vorm Spiegel und dachte, bald bist du 60 und alt. Aber was ist das, das Alter?" Und er wollte es wissen: "Zu welchen Leistungen sind ältere Menschen fähig, wenn man sie nicht mit Zerstreuung beruhigt, sondern mit professioneller Bühnenarbeit aufregt?" Denn eins war für ihn klar: "Ich mache kein Liebhabertheater." Die Testreihe, die er mit den "methusalems" vor acht Jahren zur Beantwortung seiner Frage begann, sieht vielversprechend aus. Unter seiner Leitung erarbeiteten sie die Stücke "Jenseits von gut und böse" und "Methusalems reisen". Sie spielten kleinere Rollen in den Inszenierungen von Sartres "Die Fliegen" und Brechts "Der gute Mensch von Sezuan" neben den Schauspielern der städtischen Bühnen und sind seit 2007 mit dem Boulevardklassiker "Arsen und Spitzenhäubchen", zusammen mit dem Jugendclub des Theaters, zu sehen.

Auch Helmekes langjähriger Freund Harald Jeske, früher Staatsanwalt, der in "Arsen und Spitzenhäubchen" seinen Komplizen Dr. Einstein gibt, war damals auf die Anzeige zum "Casting" erschienen. Unauffällig hatten sich beide damals beäugt: "Wenn der genommen wird und nicht ich, was dann…?" Das Publikum bei den Freiburger Seniorentheatertagen Ende Februar war vielleicht der erste Zeuge dieser überraschenden Konkurrenzbeichte. Doch schnell einigte man sich bei der Gelegenheit nachträglich auf eine altruistische Formel: "Wäre nur einer von uns genommen worden, wir hätten beide verzichtet." Die Freundschaft jedenfalls hat nicht gelitten. Im Gegenteil: Zwischen den "methusalems" sind feste Bindungen entstanden, die sie auch im ganz persönlichen Leben tragen - und auf die Bühne zurückwirken. So konnten die Darstellerinnen Renate Gimmi, Gisela Strasburger, Ludmilla Müller und Gerburg Rüsing die Doppelbesetzung der beiden mordlustigen Damen Abby und Martha in "Arsen und Spitzenhäubchen" auch gut und fair untereinander aufteilen.

Sie und die anderen Mitglieder der Schauspieltruppe treffen sich mit Grieser jede Woche zu Proben, Bewegungstraining und am Stammtisch. "Meister", nennen sie ihn. Bei einem neuerlichen "Casting" war denn auch zu spüren, wie die Begeisterung dieses "Altersforschers" - dem selbst bestenfalls die Geschmeidigkeitsübungen einer Katze, die Tänzerin Emma-Louise Jordan ihren Kursteilnehmern beim Bewegungstraining abverlangt, gewisse Grenzen setzt - die Körper der Spieler beflügelt. Wie er die Figuren formt, die sie für sich entworfen hatten. Und wie sein Ehrgeiz sich fortsetzt beim Üben kleiner Lebensabschnittsdialoge aus der Feder seiner Frau, der Autorin Ingrid Israel.

Harald Jeske hat glänzende Augen, wenn er von den "methusalems" spricht: "Attraktivität und Begehren" sind das Licht dahinter, wie er gerne zugibt. Denn für ihn hat sich die Leere nach der Pensionierung verflüchtigt, seit er auf der Bühne steht. Thomas Schelenz, Sohn eines Freiburger Bildhauers, früher als technischer Leiter am Kiepenheuer-Institut für Sonnenphysik tätig und mit 67 einer der Jüngsten, glüht vor Freude: "Ich habe mich mit der Frage herumgeschlagen, was ich in meinem Leben anders machen würde, könnte ich es noch einmal von vorne beginnen. Die Antwort habe ich hier gefunden." Für die Altphilologin Gisela Strasburger ist das Theaterspielen eine "enorme Bereicherung" und selbst die mittlerweile rüstige 96-jährige Betty Hauger möchte es nicht mehr missen. Für sie und alle anderen Mitglieder der Truppe wurde die Schauspielerei zum Aufbruch in ein gründlich verändertes Leben. Ihre Familien, deren Feste und Urlaube richten sich seitdem nach den Auftrittsterminen, krank werden fällt aus. Ausgesprochen anstrengend ist das Leben im Ruhestand geworden. Und das macht sie glücklich.

Seniorentheater - ein Therapeutikum? Auch. Der "Bundesarbeitskreis Seniorentheater" hält in seiner "Scheinfelder Erklärung" Grundsätzliches fest: "Die künstlerische Tätigkeit fördert die innerliche Beweglichkeit und kann zu einer versöhnlichen Lebensbilanz beitragen. Durch die Beschäftigung mit existenziellen Fragen, wie etwa nach Leben und Tod und dem begleitenden Prozess des Sicherinnerns entstehen individuelle Bilder und Emotionen. Theater bietet den Ort, an dem man diese Gefühle in einen erlebbaren und sichtbaren Ausdruck bringen kann. Es geht darum, dem reichen Schatz an Erfahrungen eine Form zugeben und sie zu verwandeln, statt innerlich zu erstarren." Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich die schauspielenden Senioren ihre Stücke gern selbst erarbeiten. Entlang der eigenen Lebenserfahrung. "Alltagsszenen zwischen Kreuzfahrt und Altersheim", nennt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das, was sich mittlerweile in fast jeder Stadt dieser Republik abspielt.

Aber das ist es nicht allein. Wie sagte die französische Schriftstellerin, Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir? Auch im Alter müsse man weiter ein Ziel verfolgen, das dem Leben einen Sinn gebe, damit es nicht zur Karikatur werde. Und so ist die Senioren-Avantgarde dabei, fern ab vom Regietheater, doch mit Anspruch an Professionalität, sich zu einer Sparte zu entwickeln, die von den Theatern, wie die Freiburger Intendantin Barbara Mundel gerne bestätigt, ernst genommen wird. "Arsen und Spitzenhäubchen" lief hier schon 28-mal vor ausverkauftem Haus. Die Karlsruher Gruppe "BaSta" ging in dieser Saison mit dem "Besuch der alten Dame" bisher 35-mal auf die Bühne. Und immer sind alle Plätze des Badischen Staatstheaters besetzt. "BaSta" gehört ebenso zu jenen, die sich - unter der Regie des Theaterpädagogen Jochen Wietershofer - an den Profis orientiert. Und das Generationentheater "Zeitsprung" am Landestheater Tübingen könnte sich mit seiner Inszenierung "Kontakt-Schleifen", wie sie in Freiburg zu sehen war, mit seiner Regisseurin Helga Kröplin durchaus in regulären Spielplänen einen Platz erobern.

Überhaupt: Seniorentheater, das, wie Mundel sagt, die gesellschaftliche Teilhabe der Alten "möglich und sichtbar machen" soll, kann Leute in den Zuschauerraum holen, die ihm sonst fern blieben. Ältere und auch Jüngere. Es mindert die Schwellenangst. Ganz wie das Volks- und Mundarttheater, aus dem es sich zum Teil entwickelt hat. Wer dort hingeht, fühlt sich nicht mit Bildungserwartung belastet, fürchtet keine "wilde" Regie oder Forderungen an eine kritisch-reflektierte Analyse. Und kann dann doch ganz angenehm berührt sein, wenn nicht nur ein traditioneller Schwank bühnenseliger Hobbyspieler seine Lachmuskeln beansprucht, sondern professionalisierte Amateure mit einem Drama etwa sein Gemüt in Erregung versetzen.

Seniorentheater sind feste Bestandteile des kulturellen Lebens geworden. Mit einem kleinen Wermutstropfen allerdings im Spiel der jungen Alten, die so enthusiastisch in eine etwas andere Pubertät aufbrechen. Denn wie sagt doch die alte Frau in dem Stück "Kontakt-Schleifen"? "Wie schnell die Zeit vergeht, man kann gar nicht langsam genug sein."

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