Senioren als Besetzer: Der Wert der Alten
Der Aufstand der "Wutrentner" richtet sich gegen den Bezirk Pankow. Der verweist auf den Senat und seine Sparauflagen. Was wäre, wenn der Bezirk das Diktat verweigerte?
Der Aufstand der Alten kann heruntergebrochen werden auf einen Haushaltstitel. „Eigentlich sind 52.000 Euro ein Klacks für so eine Stadt“, sagt Doris Syrbe, eine der Besetzerinnen der Seniorenfreizeitstätte in der Stillen Straße. So viel Geld würde es kosten, die Villa weiter zur Verfügung zu stellen. Honorare für Kursleiter inbegriffen, die millionenschwere Sanierung des Anwesens nicht.
Doris Syrbe ist keine Revoluzzerin, das macht den lauten Protest in der Stillen Straße so unberechenbar. Und womöglich sogar erfolgreich. Welcher Bezirkspolitiker würde schon einen Polizeieinsatz auslösen, dessen Bilder noch am gleichen Abend im heute journal liefen? Doch in einem irrt die Mutter des Seniorenprotests. Für den Senat, der gerade millionenschwere Mehrkosten für den Flughafen anvisiert, mögen 52.000 Euro ein Klacks sein. Für den Bezirkshaushalt sind sie es nicht.
34 Millionen Schulden hat Pankow im Nacken, zusammen mit Spandau, Mitte und Marzahn-Hellersdorf gehört es damit zu den sogenannten Konsolidierungsbezirken, bei denen der Finanzsenator besonders streng hinschaut.
Im Haushaltsjahr 2012, so will es Ulrich Nußbaum, muss Pankow 5 Millionen Euro sparen. Davon entfallen 1,5 Millionen auf die Ressorts Verbraucherschutz, Bürgerservice und Kultur. Die Rechnung ist einfach: An sogenannten Pflichtausgaben kann das Bezirksamt keinen Rotstift ansetzen. Bei den freiwilligen Ausgaben schon. Das Bezirksmuseum in der Heynstraße zählt dazu, die Galerie Pankow – und eben die Seniorenfreizeitstätte Stille Straße.
Doris Syrbe und ihre Mitbesetzerinnen erfahren jede Menge Solidarität. Täglich kommen Nachbarn vorbei, auch die junge Protestszene ist vor Ort. Was aber, wenn die Bezirkspolitiker nachgeben – und die 52.000 Euro an anderer Stelle gespart werden? Bei den Bibliotheken zum Beispiel? Würden die Betroffenen dann gemeinsam auf die Straße ziehen? Oder wäre es dann vorbei mit der Solidarität?
Was Doris Syrbe und Co. betreiben, ist kein Wutbürgertum, sie vertreten schlicht ihre Interessen. Weil ein Dutzend Alte nicht alle Tage ihre Einrichtung besetzt, ist ihnen die Aufmerksamkeit sicher. Damit erpressen sie den Bezirk. Wenn ihr uns die 52.000 Euro nicht gebt, dann seht ihr alt aus. Sie tun das auch deshalb, weil die Aussichten eines nicht erpresserischen Protestes auf Bezirksebene denkbar schlecht sind. Schließlich wird auch der Bezirk erpresst. Ohne Sparen, so lautet das Diktat des Senats, übernimmt der Finanzsenator die Geschäfte.
Was aber, wenn sich ein Bezirk diesem Diktat verweigert? Vor drei Jahren hatte in Pankow der ehemalige Kulturstadtrat Michail Nelken (Linke) einen solchen Aufstand gewagt. Um Kürzungen im Kulturetat von 600.000 Euro zu vermeiden, wies er die Summe kurzerhand als „pauschale Mindereinnahmen“ aus. Damit brachte er nicht nur die anderen Stadträte gegen sich auf, die ihre Etats tapfer nach Einsparmöglichkeiten durchforstet hatten. Auch der Senat drohte: Ohne gültigen Haushalt komme Pankow unter eine „vorläufige Haushaltswirtschaft“. „Dann wird alles gestoppt, was nicht unbedingt nötig ist“, erklärt Kathrin Bierwirth, die Sprecherin des Finanzsenators.
Eine Debatte über das Verhältnis zwischen Land und Bezirken habe er anstoßen wollen, sagte Michail Nelken damals. Es ist ihm nicht gelungen. Statt der kürzlich geforderten 112 Millionen bekommen die Bezirke nur 50 Millionen mehr. Das ist zu viel zum Sterben und zu wenig für eine Seniorenfreizeitstätte.
Wie aber könnte eine andere Zukunft der Bezirke aussehen? Als Berlin und Brandenburg noch über eine Länderfusion verhandelten, stand auch das Berliner Stadtstaatenprivileg zur Debatte – und mit ihm die zweigliedrige Berliner Verwaltung. Der Stadtforscher Dieter Hoffmann-Axthelm fordert schon lange einen Schnitt. „Rekommunalisierung heißt, Berlin als Stadt organisieren und nicht als Kleinststaat“, sagt er. Man kann es auch so sagen: Warum Geld für Beamte ausgeben, wenn es die Senioren nötiger hätten?
Auch der Finanzsenator hätte sicher nichts gegen eine Abschaffung der Bezirke. Zwar dementiert Sprecherin Bierwirth, dass es in ihrer Verwaltung Pläne in der Schublade gebe, in denen die Einsparpotenziale eines solchen Schnitts vorgerechnet werden. Die Sparsumme wäre freilich immens. Politisch durchsetzbar wäre es aber nicht. Als die FDP 2005 im Abgeordnetenhaus beantragte, die Bezirke aufzulösen, stimmten SPD, CDU und Grüne dagegen. Ohne Bezirke gäbe es auch keine Bezirksämter und Bezirksverordnetenversammlungen – und damit auch weniger innerparteiliche Aufstiegsmöglichkeiten.
Es spricht also vieles dafür, dass alles bleibt, wie es ist – und die Sparauflagen künftig noch größer werden. Doch die gefühlte Ungerechtigkeit wächst. Gegenüber den 500 Millionen, die das Land dem Flughafen zuschießen muss, sind die 52.000 Euro für die Stille Straße tatsächlich ein Klacks – auch wenn sie den Bezirk betreffen. Die Senioren, die die zweigliedrige Verwaltung nicht erfunden haben, denken nämlich: Was ist ein Flughafen wert? Und was sind die Alten wert? Der Protest steht womöglich erst am Anfang.
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